Veränderung nimmt vor allem der Heimkehrende wahr. Der Wandel der Umgebung, das Altern der Gesichter. Fortgehen und Wiederkommen, das sind klassische Motive der Literaturgeschichte. In den letzten Jahren hat sich in der Gegenwartsbelletristik ein Trend zur Heimatrückkehr durchgesetzt. Raus aus dem Berliner Großstadttrubel, rein in die Provinz, wie etwa in Andreas Maiers Ortsumgehungen der Wetterau. Alles eine intakte Idylle?
Nicht ganz. Auch in Jan Böttchers Roman „Das Kaff“ kehrt der Protagonist Michael Schürz in sein Heimatdorf zurück. Und es liegt einiges im Argen. Das beginnt schon bei seiner Ankunft, wo er beim Schwimmen mit jugendlichen Halbstarken in Konflikt gerät, die ihm seine Badesachen stehlen. „Haben wir das genauso gemacht? Wildfremde Leute belästigen, sind wir so weit gegangen?“ Das fragt sich Michael Schürz am Anfang des Romans.
Aus diesem las Jan Böttcher gleich zu Beginn seiner Lesung im Dortmunder Literaturhaus. Mitgebracht hat der in Berlin lebende Autor nicht nur seinen neuen, mittlerweile fünften Roman, sondern auch seine Gitarre. Denn seit 1997 ist Böttcher als Songwriter oder Mitglied der Band „Herr Nilsson“ unterwegs.
Dass es in den Songs, die er an diesem Abend sang, um eine alte Jugendliebe in der Provinz oder den zu beobachtenden Wandel im Ortseingang geht, war da eher eine Randnotiz. Im Vordergrund stand natürlich sein Roman „Das Kaff“. Und in dieses zieht es seinen Protagonisten nur widerwillig: vor Jahren ist er weggezogen nach Berlin. Dort hat er Architektur studiert, nebenbei kellnerte er und als er schließlich in einer Beziehung lebte, blieb auch das Pendeln aus.
Doch ausgerechnet wegen eines Jobs seiner Baufirma muss er in sein Heimatdorf zurückkehren, um hier die Leitung für den Bau von Eigentumswohnungen zu übernehmen. Dass sich auch in der heimatlichen Provinz vieles wandelt, das verkörpert der junge Architekt quasi selbst. „Es ist ein Trugschluss von ihm, dass Bewegung nur in der Stadt stattfindet“, kommentiert Böttcher.
Das betrifft auch ihn selbst, wenn er im Zwirn wie ein Großstadtsnob vor den früheren Weggefährten erscheint. Etwa wenn er auf seinen einstigen Tischler-Meister trifft. Oder wenn er in Gesprächen mit alten Freunden rätselt, ob das zwischen den Zeilen auch Vorwürfe sind, gegen ihn, den Weggezogenen. Diese Figuren, die provinzielle Szenerie zeichnet Böttcher sehr akribisch. Schnell lebt sich sein Protagonist hier wieder zwischen Baustelle und Bolzplatz ein.
Vielleicht ist das auch ein Vorteil gegenüber der Hauptstadt, die provinzieller ist, als sie auf den ersten Blick erscheint: „Meine Erfahrung in Berlin ist, dass es auch zur Kleinstadt wird und sich zu Kleinkiezen durchmischt“, beklagt der Wahl-Berliner Böttcher eine zunehmende Verdrängung und Homogenisierung im Großstadtleben. Vielleicht erfährt der Heimatroman auch deswegen einen Trend in der Gegenwartsliteratur.
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