Sogar Marina Abramović lässt das nicht kalt. Als Tad vor der Performance-Künstlerin steht und die Lippen zum Namen derjenigen bewegt, die er so begehrt. Gleich zwei mal: Megan, Megan. Megan? Das ist eine junge Architektin, die der polnische Lyriker zufällig in der New Yorker U-Bahn begegnet. Mit ihr stürzt sich Tad in eine Affäre, schließlich verliebt sich der Ehemann Hals über Kopf in diese junge Frau. Doch dann meldet sie sich nicht mehr und geht nicht ans Handy. Alles nur ein Spiel? Ein bisschen Sex gegen die Langweile in der westlichen Welt? Ohne Gefühle füreinander?
Das sind die Fragen, dieTadeusz Dąbrowskis Protagonisten bewegen. „Heute ist die Langeweile der größte Feind“, sagt Dąbrowski bei seiner Lesung im Literaturhaus Dortmund über dieses kalte Manöver von Megan. „Sie macht das mit Tad. Das Buch ist eine Antwort darauf.“ Denn dieses postmoderne Objekt der Begierde erscheint dem Lyriker nicht greifbar. Sie hangelt sich von einem Projekt zum nächsten und pflegt seiner Ansicht nach ein Leben, als wäre alles eine einzige, große Performance.
Distanz diktiert alles Zwischenmenschliche. Selbst wenn sie miteinander kommunizieren. Weswegen dieser gekränkte Ich-Erzähler prompt eine Gesellschaftsdiagnose aufstellt: „Sie schrieb in dieser Zeit nur selten und unpersönlich, aber hätte es anders sein können – aus der Tiefe der Gegenwart, in der sie bis über ihre beiden Samtöhrchen steckte“? Irgendwann schreibt sie schließlich gar nicht mehr.
Ausgerechnet bei der Eröffnung von Marina Abramović' berühmter Performance The Artist is Present hofft er, sie zu wiederzufinden. Dort, wo Abramović bekanntlich drei Monate lang Tag für Tag auf einem Stuhl saß, um insgesamt 1565 Besucher*innen in die Augen zu blicken. Die serbische Performance-Künstlerin inszenierte damit 2010 ein Medienereignis. Bis zum Moment, in dem ihr Ex-Lebensgefährte Ulay (von dem sich Abramović ebenso öffentlichkeitswirksam bei ihrer Performance auf der Chinesischen Mauern trennte) ihr gegenüber steht und so tief in die Augen blickt, dass Tränen über ihr versteinertes Gesichts liefen. Nähe räumte den Platz für ein endloses, spektakuläres Spiel.
Dąbrowski lässt es seinen Protagonisten testen. Die Silben seiner Angebeteten, die er lautlos über seine Lippen haucht, zwingen der Abramović in seinem Roman eine Reaktion ab: „Und in diesem Moment verengen sich ihre Pupillen, ihr rechtes Lid beginnt zu zittern, und die Zunge feuchtet eilig die Lippen an.“
Regt sich da also doch noch etwas unter dieser Oberfläche in Zeiten (digitaler) Selbstinszenierung? Dąbrowski hofft auf die Literatur: „Kunst bedeutet, die Haut wie die Schlange hinter sich zu lassen.“ Garant dafür sei die Lyrik. Eines seiner Gedichte versteht er als seinen „persönlichen Kampf gegen die Postmoderne.“
Auch sein Protagonist will Megan aus ihrem „Panzer“ und „Korsett“ locken. Seine Strategie: „die Dekonstruktion Megans mit Hilfe von Nahrungsmitteln.“ Denn er lädt sie in ein polnisches Lokal in New York ein. Dort servieren sie Blutwurst, Zunge, Schweineleber – reine Innereien, nicht so was wie dieser Fast-Food-Dreck beim amerikanischen Hot Dog, wie Tad argumentiert: „da ist alles drin, durch den Fleischwolf gedreht, gepresst und aufgelockert, wie in einem guten zeitgenössischen Gedicht.“ Schließlich treibt er die „Regie“, die er mit ihr führt, auf die Spitze. „Er wollte nur ein paar authentische Tränen aus ihr herauspressen“, sagt Dąbrowski, ohne seinen Protagonisten entschuldigen zu wollen. „Aber für mich als Autor ist das ein Kampf um Authentizität.“ Diese führte Dąbrowski bisher mit Versen, nun mit seinem metaphernreichen Debütroman, der im polnischen einen anderen Titel trägt: „Hilflose Linie“. Erst die deutschen Verleger entschieden sich für „Eine Liebe in New York“. Denn das klingt mehr nach Woody Allen.
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