Neulich passierte es: Domenico Müllensiefen, als Bauleiter zuständig für die Installation von Glasfaserleitungen, erwischte Kollegen, die sich während der Arbeitszeit ein Bier genehmigten. „Ich muss das jetzt klären, aber ich habe Empathien dafür“, sagt Müllensiefen, „Lohnarbeit macht kaputt“. Dass er trotz des Regelverstoßes Mitgefühl für seine Kollegen hat, liegt sicherlich an Müllensiefens Herkunft aus einem Milieu, dem der gebürtige Magdeburger sich in seinem Debütroman „Aus unseren Feuern“ widmet.
Im Literaturhaus Dortmund las der Autor Passagen aus diesem Roman, dessen Sound eben diesen Menschen aus der Arbeiterklasse entlehnt ist. Der Umgangston: schroff und grob. Zum Habitus sowie zum Umgangston gehört, dass eben viel geraucht, gesoffen oder gepöbelt wird. „Ich versuche abzubilden, wie Menschen quatschen“, sagt Müllensiefen, „manchmal kommen dabei Dinge heraus, die politisch gar nicht gehen“.
Unbekannte Arbeiterrealität
Sein Roman erzählt aus der Perspektive des Bestatters Heiko. Als dieser im Jahr 2014 zu einem Unfallort gerufen wird, stößt er auf die Leiche seines Jugendfreundes Thomas. Damit beginnt die Erinnerung, die Müllensiefen als Coming-of-Age-Geschichte über die Nachwendejahre aufrollen lässt. Müllensiefen, Jahrgang 1987, absolvierte eine Ausbildung zum Systemelektroniker, bevor er später Bauleiter wurde. Zwischendurch studierte er am Leipziger Literaturinstitut das Fach Kreatives Schreiben. Um das finanzieren zu können, musste er jobben. Dass am renommierten Institut vor allem Ärzte- und Juristenkinder aus bürgerlichem Hause den Eintritt in den Literaturbetrieb suchten, schlage sich auch in den Sujets und Darstellungen nieder. Arbeitermilieus oder proletarische Figuren finden sich zwar bei Autoren wie z.B. Christian Baron, sind aber ansonsten eine Randnotiz in der deutschen Gegenwartsbelletristik. So kritisiert auch Müllensiefen das ausbleibende Wissen um den Lebensalltag der einfachen Leute unter seinen Ex-Kommiliton:innen: „Die kannten diese Realität gar nicht. Mit Ausnahme von Clemens Meyer gibt es niemanden, der darüber erzählt.“
Verklärung deutscher Vergangenheit
Mit Müllensiefen reüssiert nun wieder ein Schriftsteller, der die Leser:innen in dieses Milieu entführt, etwa in eine Plattenbaukneipe, „die mit schummrigen Licht ausgeleuchtet wurde, welches mit aller Macht versuchte, gegen den Qualm anzukommen“; eine Kneipe, in der auf dem Tresen volle Aschenbecher stehen und Wolfgang Petry tönt, in der Aufkleber, Lokomotive Leipzig preisen, „Ein Herz“ für Deutschland bekunden oder gar Revisionistisches über die Wehrmachtsvergangenheit der Großväter verkünden. Denn sein Debüt entpuppt sich auch in Details als Wende- und Arbeiterroman zugleich: als literarische Abhandlung von Träumen, den Alltag der Maloche oder den Klassenschranken, aber ebenso als genaue Beobachtung des Rechtsrucks, der Baseballschlägerjahre in den 90ern. Es sind allesamt Krisensymptome einer kapitalistischen Gesellschaft, denen Müllensiefen an diesem Abend mit einer klaren Sozialkritik begegnet: „Du kannst keinen gesellschaftlichen Frieden finden, wenn du diese armen Menschen nicht berücksichtigst.“ Auch in dieser Hinsicht besteht also Klärungsbedarf.
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