In Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ spielte James Stewart den Fotoreporter Jeff, der sich das Bein brach und im Rollstuhl sitzt. Von seinem Apartment aus beobachtet er, wie eine Frau von ihrem Mann ermordet wird, sodass der Täter auf ihn, den Zeugen, aufmerksam wird. Dass Jeff wegen seines Gipses nicht fliehen kann und der Situation weitgehend ausgeliefert ist, nutzte Hitchcock für allerhand Suspense in seinem Film von 1954.
Die Schriftstellerin Berit Glanz griff diese Ohnmachtssituation in ihrem Roman „Automaton“ auf, wie sie bei ihrer Lesung im Literaturhaus Dortmund verrät: „Ich hatte mich gefragt, wie es ist, etwas Schlechtes sehen zu müssen, ohne sich bewegen zu können.“ Auch ihre Protagonistin namens Till wird eines Tages zur Zeugin eines Verbrechens. Doch das Fenster ist in ihrem Fall ihr Computerbildschirm. Die alleinerziehende Mutter kann sich nicht fortbewegen, denn seit einer Angststörung ist sie auf einen Online-Job für die Plattform „Automa“ angewiesen, als Clickworkerin schuftet sie tagtäglich und isoliert zuhause.
Schöne neue Arbeitswelt
Berit Glanz widmet sich in ihrem aktuellen Roman dem digitalen Prekariat der Gegenwart, jenen Akkordarbeiter:innen der Tech-Giganten wie Meta, die weder eine Tarifbindung, noch eine gewerkschaftliche Organisation haben. Es ist nicht das erste Mal, das sich die 1982 geborene Autorin belletristisch an der schönen neuen Arbeitswelt abarbeitet. Bereits ihr Romandebüt Pixeltänzer erzählte von den Zumutungen der Berliner Start-Up-Branche.
Umso passender erschien es, dass sie bei einer Lesung über die Hintergründe ihres aktuellen Romans sprach, die in Kooperation mit dem Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund organisiert wurde. Bei dieser Veranstaltung erwähnte Glanz zunächst die Zustände, in denen Clickworker oder Content Manager tätig sind. Letztere seien die „digitalen Putzkräfte“, so Glanz. Denn sie müssen jene Darstellungen von Gewalt oder Diskriminierung kontrollieren und entfernen, die auf sozialen Plattformen verbreitet wird.
Kein linker Roman
Till muss die Aufnahmen einer Überwachungskamera auswerten. Bis sie eben auf das erwähnte Verbrechen stößt. Bei der anschließenden Ermittlung dieses Falls kreuzt sich Tills Weg mit Stella, einer weiteren prekär beschäftigten Protagonistin. Sie lebt in Kalifornien, wo sie ihr Einkommen allerdings körperlich verdient, zunächst in einer Fischfabrik, später auf einer selbstverwalteten Cannabisplantage. Über diese Stella sagt Glanz: „Es ist eine vereinzelte Figur an der Westküste, die sich nach solidarischen Formen der Arbeit sehnt.“
Denn „Automaton“ ist kein Roman über den Arbeitskampf. Glanz tastet sich vielmehr an die Verhältnisse der neuen Tagelöhner heran. Sie ringen zunächst darum, aus ihrer Isolation auszubrechen. So stellt auch Glanz klar: „Es ist kein linker Roman wie in den 1960er Jahren, wo Minenarbeiter streiken.“ Es geht um die Überwindung der Vereinzelung, um Sorgearbeit und solidarischen Beziehungswiesen im digitalen Zeitalter, von der Glanz mit viel Suspense erzählt.
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