Feuilletons neigen bekanntlich dazu, Labels und Etiketten zu lancieren. Und mit Blick auf die Romanerscheinungen der letzten Jahre lässt sich auch von einer postmigrantischen Literatur sprechen: von Saša Stanišićs „Herkunft“ oder Sasha Marianna Salzmanns „Außer sich“ bis zuletzt Gün Tanks „Die Optimistinnen“ oder Usama Al Shahmanis „Der Vogel zweifelt nicht an dem Ort, zu dem er fliegt“. Ihre autofiktive Belletristik eint die Motive, mit denen sie sich auseinandersetzen: Flucht und Ankommen, Identität und Fremdsein, Diskriminierungserfahrungen und Generationskonflikte.
Dass es sich bei diesem Phänomen um mehr handelt, als um eine feuilletonistische Nebelkerze, beweist eine neugeschaffene Poetikdozentur für postmigrantisches Schreiben, welche erstmals die Schriftstellerin Lena Gorelik seit letztem Herbst an der Leibnitz Universität in Hannover innehat. Die Dozent:innen für diesen bundesweit einmaligen Posten werden unabhängig von ihrer Identität und Herkunftsgeschichte anhand des Anspruchs an ihr Werk ausgewählt. Und im Titel von Goreliks Roman, aus dem sie im März im Literaturhaus Dortmund liest, klingt dieser Ansatz bereits programmatisch an: „Wer wir sind“.
Zur Handlung: Goreliks Alter Ego, die elfjährige Lena, wandert 1992 mit Eltern, Bruder, Großmutter und der gesamten Familienhabe in neun Bündeln aus Sankt Petersburg nach Deutschland aus. Von der russischen Metropole geht es in die schwäbische Provinz, wo sie sich hinter dem Stacheldraht einer überfüllten Asylantenbaracke wiederfanden. Gorelik macht keinen Hehl daraus, dass ihr Sujet autobiografisch gespeist ist. Und ihre Familie wird schnell mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit konfrontiert. Dazu gehört nicht nur die Verzweiflung, die Enge und der Gestank in der Flüchtlingsunterkunft. Denn ihr Vater muss sich als Zeitarbeiter verdingen, ihre Mutter als Putzkraft schuften – obwohl ihre Eltern in Russland Ingenieure waren. Doch ihre sowjetischen Zeugnisse werden im Westen nicht anerkannt.
Damit droht ihnen im neuen Land ein sozialer Abstieg, den auch Goreliks junge Protagonisten zu spüren bekommt: Scham, Armut und Außenseitertum prägen ihren Alltag. Hinzukommen die erniedrigenden Amtsgänge, die Sprachschwierigkeiten – Erfahrungen, die Gorelik in einem Roman über Schmerz und Versöhnung des Postmigrantischen schildert.
Lena Gorelik: Wer wir sind | 21.3., 19 Uhr | Literaturhaus Dortmund | www.literaturhaus-dortmund.de
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