Endlich liegt die Schulzeit hinter ihr. Gemeinsam mit ihrer Freundin Olesja liegt Luba Goldberg-Kuznetsovas namenlose Ich-Erzählerin in einem kleinen Park in St. Petersburg. Auf einem Markt stöbert sie schließlich an diesem Sommertag mit ihrer Freundin nach einem Kleid für ihren Abschlussball. In der Hoffnung, „zwischen den ganzen illegal importierten Made-in-China-Gummischlappen und Bergen billiger Polyesterunterwäsche, die eine bunte Landschaft unter dem freien Himmel bilden, ein anständiges Kleid zu finden.“
Ja, so sieht es aus, das Russland unter Putin: Während Berge an Waren das westliche Freiheitsversprechen und die turbokapitalischen Verheißungen einlösen, ragt die autoritäre Vergangenheit des Stalinismus und Zarismus in die Gegenwart. Luba Goldberg-Kuznetsova beschreibt diesen Umbruch in „Lubotschka“ aus der Sicht einer 18-Jährigen. Im Literaturhaus Dortmund las die Autorin im Rahmen der Reihe LiteraturAufRuhr aus ihrem Debütroman.
Gedankenversunken erinnert sich diese Ich-Erzählerin an die Lounge-Pakete, die damals aus Deutschland kamen, nachdem Gorbatschow in der Sowjetunion Zoll und Grenzen lüftete. Oder an die trostlose Zeit im Internat. „Meine Protagonistin und ich haben beide nie die Schulzeit gemocht“, erzählt Goldberg-Kuznetsova an diesem Donnerstagabend. „Dieser Mangel an Privatsphäre ist das Schlimmste am Internat.“ Literarisch stand für diese Erfahrung ein Klassiker Pate: „Der Fänger im Roggen“ des amerikanischen Schriftstellers J.D. Salinger. Ein Zitat hat die gebürtige St. Petersburgerin ihrem Roman vorangestellt: „I like it when somebody digresses. It’s more interesting and all.“ Und diese Abschweifungen eröffnen sich wie bei Salinger im Flanieren: Sein Ich-Erzähler Holden Caulfield streift bekanntlich drei Tage durch Manhattan, um die grausige Schulzeit zu verarbeiten, die er hinter sich ließ. Bei Goldberg-Kuznetsova sind es die Straßen St. Petersburgs, wie die Absolventin des Hildesheimer Studiengangs „Literarisches Schreiben“ verrät: „In diesem Buch geht es sehr viel um um das Schlendern und Spazieren.“
Es ist ein Schlendern durch eine Schwelle. Im Rückblick steht das alte Russland mit der Mangelwirtschaft oder dem Hausen in sogenannten Kommunalkas, vom Staat organisierte Wohngemeinschaften in den Ballungsräumen. Doch beim Durchstreifen der Metropole stößt sie immer wieder auf die Realität der russischen Gegenwart, die ein Berg von Waren ist: vom fliederfarbenen Schal voller Calvin-Klein-Logos bis hin zu den zahlreichen Kosmetik-Produkten, die diese 18-Jährige locken. Der Konsum liefert ihr Freiheitsversprechen und Erfahrungsversatzstücke zugleich. So imaginiert diese Jugendliche kühn in Kategorien: „Wunderlich, wie eine Frau violette oder orangefarbene Lippen tragen und nach dem Trinken ihre Kippe in den Becher werfen und gehen kann. Ich stelle sie mir vor. Sie ist eine Alkoholikerin, weigert sich aber, dies zuzugeben, trägt schwarze Netzstrumpfhosen und gigantischen »goldenen« Schmuck. Sicherlich trägt sie den Lidstrich am unteren Lid und riecht nach Rose. Und nach Wodka und Tabak aus dem Mund. Sie hat spitze Ellbogen und Knie und ein knöcheriges Dekolleté.“
Das neue Russland schenkt seinen Insassen Ellbogenfreiheit. Und bürgt dafür mit Ungewissheit. „Wovon wollt ihr denn dort eigentlich leben?“ Das fragt Olesja, die Freundin dieser Ich-Erzählerin, gleich zu Beginn des Romans. Diese existenziellen Fragen verpackt Goldberg-Kuznetsova zu einer Coming-of-Age-Story über Aufbruch und Schwerelosigkeit im neoliberalen Russland der Gegenwart.
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