Für Autor:innen ist es erst mal keine gute Nachricht, wenn die Moderation der Lesung absagt. Eigentlich sollte Dortmunds Stadtschreiberin Anna Herzig durch den Abend führen, doch sie war kurzfristig verhindert. Und so sitzt Olivia Kuderewski allein am Lesepult des Literaturhauses, versucht geschickt eine Interaktion mit dem Publikum einzufädeln, nachdem sie aus den ersten Seiten ihres Romans „Lux“ gelesen hat.
Ihr Debütwerk, bedacht mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis 2021, schickt ihre titelgebende Protagonistin auf einen Roadtrip durch die USA, eine Reise vom Osten in den Westen. Und das entwickelt schnell einen Sog, sobald Lux in einen klapprigen Bus in New York steigt, „in dem man durchgeschüttelt wird, in den Kurven hin- und hergeschleudert wird, man rauscht auf einer Strecke dahin, die so gerade und lang ist, dass die Rundung der Erde am Horizont sichtbar wird, mit der Schläfe gegen die Scheibe, dämmert weg, wacht wieder auf, und die Landschaft hat sich in der Zwischenzeit neu erfunden.“
Unterwegssein als Selbstfindung
Das erste Kapitel ist gelesen. Jetzt würden die Fragen der Moderation folgen. Eigentlich. Kuderewski sucht stattdessen das Gespräch mit dem Publikum. „Wer war denn schon in den USA“, fragt sie. Einige bejahen und erzählen, von Studienjahren in Buffalo oder von Reisen durch Kalifornien, die sich wie ein „California Dreaming“-Gefühl ins Gedächtnis eingebrannt hätten.
Ja, an den Durchquerungen dieses Landes kleben immer noch Mythen. Das Unterwegssein durch die Weiten der Vereinigten Staaten wurde schließlich tausendmal erzählt, von John Steinbecks „Früchte des Zorns“ bis Jack Kerouacs „On the Road“. Oder zuletzt in Chloé Zhaos „Nomadland“ für die große Leinwand bebildert. Kuderewski greift damit einen bewährten Topos auf, das Unterwegssein als Selbstfindung, die weiten Landschaften als Seelenspiegelung. Denn ihre Protagonistin trägt einiges mit sich, die Erinnerung an einen toten Freund, den Aufenthalt in einer Psychiatrie. Im Handgepäck stecken Antidepressiva, die sie regelmäßig einnimmt.
„Selbstzerstörerisches Spiel“
„Man erfährt nicht, warum sie Richtung Westen unterwegs ist. Sie ist eine rätselhafte Figur“, sagt die Autorin über Lux. Schließlich trifft sie auf Kat, eine ebenso geheimnisvolle Figur. Lux schließt sich ihr an, fast unterwürfig. Denn Kat therapiert die neue Weggefährtin auf ihre Art, versucht, ihre Angst zu bändigen, oder verführt sie dazu, ihr ganzes Geld auszugeben. „Sie lässt sich darauf ein und beide beginnen dieses selbstzerstörerische Spiel“, so Kuderewski.
Beide durchreisen das Land mit seinen endlos scheinenden Highways, es folgen Stationen wie Detroit, Chicago, schließlich Las Vegas. „Es geht auch viel um Projektionen und Illusionen, die man sich über die Freiheit macht“, erläutert die Autorin. Gerade dies symbolisiere noch immer die USA. Und road novels über diese Vereinigten Staaten ziehen einen immer noch in den Bann, wie Kuderewski bemerkt. Als sie nach einer vorgetragenen Passage wieder den Kopf hebt und die Diskussion mit den Gästen sucht, dauert es, bis die Reaktion einer Besucherin folgt. Sie gesteht: „Ich sitze noch im Bus.“
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