Stein um Stein das Kulturleben der Revier-Metropole erkunden: Das ist die Idee hinter dem Kulturpfadfest Essen, das seit 2002 zum Flanieren zwischen Philharmonie und City, zwischen Grillo-Theater und Lichtburg einlädt. Insgesamt 34 Orte konnte der Kulturliebhaber am 10. Juni erkunden und neu entdecken, zusätzlich gab es ein vielseitiges Programm unter freiem Himmel, auf dem Burgplatz im Herzen der Innenstadt.
Die blauen Leuchtsteine, die den Kulturfreunden den Weg weisen sollten, musste man zwar suchen – aber übersehen konnte man das Fest nicht. Und überhören auch nicht, zumindest wenn drei Kölner Tanz-StudentInnen auf dem Burgplatz „Bewegte Musik“ boten, so auch der Titel der Aufführung. Holger Mertin trommelte tranceartige Percussion-Sounds während Emis Turan, Sylvia Ehnis und Mirjam Schirk dazu tanzten – vereinzelt, miteinander oder mit Mülltüten.
Verbirgt sich dahinter eine Ökokritik, oder sollte hier bloß unser ästhetisches Empfinden auf die Probe gestellt werden? Auf jeden Fall schafften es die drei TänzerInnen, mit ihrer Performance nie ins Alberne abzurutschen, man kam ins Staunen, wie viel Anmut beim Tanz mit dem gelben Sack möglich ist.
Mit Anmut haben die beiden Singer-Songwriter Bernd & Bernd weniger am Hut – aber das ist auch gut so: Im Stil des von Kiffer-Koryphäen wie Götz Widmann geprägten „Liedermachings“ holten sie den Mann mit Gitarre dorthin zurück, wo er hingehört: an die Bar. Zum Beispiel in die Bar der Lichtburg, wo die Beiden mit zum Image passender Verspätung ironische Protest- und Liebeslieder anstimmten. Manche davon waren ein gesungener Kampf gegen Windmühlen, zum Beispiel ein Protestlied gegen das Altern, andere eine humorvolle, aber dennoch ernst zu nehmende Gesellschaftskritik, wie zum Beispiel der Song „Maschinen“.
Ob Ironie oder knallharter Ernst, das war bei der nächsten Station „Moving Literature“ schwer zu sagen: Etwas abseits des Weges, im Forum Kunst und Architektur. Ein Mann mittleren Alters, in Jackett und Chucks, zwischen Gemälden und Publikum, neben ihm eine Harfe, vor ihm ein anderer Mann, stoisch umherlaufend, oberkörperfrei und ohne einen Hauch von Bewegung in der Mimik.
Der Mann im Jackett, Ingo Munz, las nicht, er schimpfte: auf Kabarett und Poetry-Slam, auf Literatur und Literaturbetrieb und natürlich auch aufs Publikum. Literatur, sagte er, sei stets das Metier jener Leute gewesen, die schon „mit einem Goldbarren im Arsch“ geboren worden wären. Und Kulturförderungen seien nur lebensverlängernde Maßnahmen, für einen sowieso längst unrettbaren Patienten. Einige trieb die Schimpftirade aus dem Raum. Aber der überwiegende Großteil lauschte gespannt dieser Abrechnung mit dem Kulturbetrieb.
Zurück am Burgplatz war die Sonne bereits untergegangen, Leuchtstrahler beschienen den Platz und eine junge Frau am Webstuhl. Ein roter Faden entstand, wurde von immer mehr jungen Menschen tänzerisch aufgenommen und über den Platz gesponnen. „Sturm und Strang“ heißt diese Performance des jungen Bochumer Ensembles Theater Total und gestaltete sich anmutiger als der plumpe Wortwitz im Titel vermuten ließ: Aus dem roten Faden, der symbolisch für das Leben steht, wird auch mal ein bedrohlicher Strang, eine gefährliche Peitsche oder bloß ein putziger Kopfschmuck. Die 30 jungen SchauspielerInnen jagten dem Stoff hinterher, wichen verängstigt vor ihm zurück oder machten sich ihn zu eigen. Ein verträumter und entspannter Ausklang für den Spaziergang übers Kulturpfadfest.
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