Solche nächtlichen Diskussionen kennen wohl die meisten. Zwei, drei Bierchen wurden schon getrunken. Der Abend ist fortgeschritten, am nächsten Morgen warten Lohnarbeit und andere Pflichten. Und trotzdem kann so ein Bar-Gespräch zwischen Freund*innen endlos weiterlaufen, um Sorgen zu teilen oder sich gegenseitig zuzuhören bei all diesen fiesen Alltagshürden: zu hohe Mieten und zu wenig Lohn, zu wenig Zeit und zu viel Arbeit, überall Sexismus und Rassismus.
Julia Fritzsche erwähnt das, um zu verdeutlichen, was für ein solidarisches Uhrwerk der Mensch doch ist, eines, das auf seinen Nächsten angewiesen ist, eben kein Homo oecomicus, wie sie in ihrem Buch untermauert. Denn dafür bewies die Journalistin selbst ein offenes Ohr, in dem sie weltweit mit Protestierenden aus sozialen Bewegungen sprach: Öko-Aktivist*innen, Feministinnen, Indigenen in den Anden oder streikenden Pflegekräften an der Berliner Charité.
Herausgekommen ist ein Cross-Over aus Reportage und Analyse „Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung“. Bei ihrer Buchvorstellung im Bahnhof Langendreer musste die Autorin dafür zunächst die Versatzstücke des langen Titels erläutern. Das beginnt beim Begriff der „Erzählung“. Der Philosoph Jean-François Lyotard klingt natürlich an, der die großen Meta-Erzählungen wie Aufklärung oder Klassenkampf auf dem Müllhaufen der Geschichte sah.
Doch gerade liberale und individualistische Erzählmuster werden in Film und Popkultur immer wieder recycelt: von Neu-Aufgüssen des American Dreams bis hin zur Ideologie, den Körper für den Arbeitsmarkt zu stählen. Alles nach dem Motto: Jeder ist seines eigenen Glücks Schmied. „Diese Geschichte, dass es jeder schaffen kann, stimmt natürlich nicht“, sagt Fritzsche. „Nur noch die FDP traut sich, das zu erzählen.“ Ebenso virulent: das rechte Narrativ, nach dem Migrant*innen Überfremdung anstiften, entweder populistisch oder direkt völkisch.
Fritzsche will dagegen die Geschichten hochhalten, die Emanzipationsmöglichkeiten aufzeigen. Was wiederum zu den anderen Begriffen führt: „bunt“ wie queere Protestformen mit der bekannten Regenbogenfahne. Und „tiefrot“ wie die linke „Frage nach der Ökonomie und der Arbeiterklasse“, so Fritzsche. Beides versucht sie zusammenzudenken – natürlich ohne die altlinke Formel von Haupt- und Nebenwidersprüchen.
Migrant*innen, LBGT+ oder Streikende müssen ihre Kämpfe bündeln, denn getrennt funktionieren auch Herrschaftsmechanismen nicht, so Fritzsche: „Ausbeuten geht nur durch Ausgrenzen“. Wie sehr die Linke diese zusammenhänge vernachlässigt habe, wurde nach Wahlerfolgen rechter Kandidaten wie Trump regelmäßig betont. Der Vorwurf: Identitätspolitik und Diversität haben die alte Klassenfrage verdrängt. „Es geht natürlich darum, die Profitlogik soweit wie möglich zurückzudrängen“, sagt Fritzsche. Inspiration sucht sie in ihrer Recherche dort, wo neue Formen des Organisierens, des Miteinanders und der Beziehungsweisen entstehen. Durch Klima-Räte, selbstverwaltete Hausbesetzungen oder indigene Bewegungen.
In einer Passage beschreibt Fritzsche einen Slut-Walk in München. Es ist ein heißer Sommertag. Musik wummert, Menschen tanzen. Und auf ihrer Haut strahlt Glitzer. Dass queere Aktivist*innen so kreativ gegen sexuelle Gewalt protestieren, sei ein Gewinn. Ihre Wette: andere Begehrensstrukturen schaffen, binäre Rollenklischees aufsprengen. Um damit jene mangelnde Nähe zu überwinden, die Männern, darunter auch Malochern, Rollen zuweist, die sie unzufrieden, aggressiv macht. Darum: Glitzer auf den Arbeitsschweiß.
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