Eine Leiche kommt nicht ins Museum. Höchstens plastifiziert. Für den amerikanischen Künstler John Baldessari ist das Museum Folkwang in Essen der zweite Versuch nach 1970 gewesen, sein „Cadavre Piece“ in einer heiligen Kunsthalle auszustellen. Es soll einen Leichnam zeigen, der den toten Christus in Andrea Mantegnas Gemälde „Die Beweinung Christi“ (um 1480) zitiert. Die Optik passt aber auch auf die Fotos des toten Che Guevara kurz nach seiner Ermordung. Die Realisation in Essen scheiterte natürlich wieder an Staat und Kirche, an einer Wand hängen die untauglichen Versuche, dafür eine Genehmigung zu bekommen. Das, und nur das, wäre ein internationales Kunsthighlight der Ausstellung „12 Rooms“ gewesen, für das Besucher aus der ganzen Welt zusammengeströmt wären.
Ansonsten zeigt das Dutzend White Cubes im White Cube des weltweit renommiertesten Museums des Ruhrgebiets, das zum ersten Mal mit der Eventmaschinerie der RuhrTriennale zusammenarbeitet, Standards aus dem Bereich Living Sculptures. Ihre Inhalte unter dem Motto „Live Art“ nennt Kurator Klaus Biesenbach (Direktor MoMA PS1, New York) eine „Überschreitung“ der Genres, für Hans-Ulrich Obrist (Kodirektor Serpentine Gallery, London) sind sie gleich „evolutiv“. Der Parcours der zwölf äußerlich identischen Räume ermögliche sehr direkte, intensive Begegnungen. Das stimmt. Alle Szenerien könnten ohne Ausnahme auch als ausgefallene Regieeinfälle am Theater stattfinden. Sind sie also die Fiktionalität des Realen oder etwa gleich die Realität des Fiktionalen? Das Dutzend Menschenskulpturen in Essen beantwortet diese Frage nicht; das hat es in Manchester, wo die Räume bereits zu sehen waren, trotz Besucheransturm auch nicht.
Manche Arbeiten wehen vergangenen Zeitgeist ins Museum. In Joan Jonas’ Performance „Mirror Check“, 1970 von ihr selbst aufgeführt, begutachten junge nackte Frauen ihren Körper mit einem Handspiegel. Das mag damals ein Burner gewesen sein, heute kommt das eher altbacken rüber. Auch Marina Abramovićs Leuchtkraft-Performance (1997) hat mit einem Damenwechsel alle 30 Minuten nicht mehr die gleiche Power. Die Königin der performativen Installation hat sie damals in Berlin noch selbst sechs Stunden durchgehend gezeigt. Für sie eigentlich eine kurze Performance.
Eher bemüht wirken dagegen die aktuellen Arbeiten von Dauerbrenner Santiago Sierra mit stummem Diener im Kampfanzug oder Tino Sehgal, in dessen Raum (2011) eine Manga-Figur zum Leben erwacht ist.Auch Simon Fujiwaras „Future/Perfect“ (2012), bei dem ein wohlproportionierter Mann in Badehose auf einer Sonnenbank liegt und dabei Vokabeln lernt, oderXavier Le Roys Darkroom „Ohne Titel“ (2012) hinterlassen keinen bleibenden Eindruck. Der einzige optische Leckerbissen: Xu Zhen aus Shanghai mit „In nur einem Augenblick“ von 2005. Bei ihm schwebt ein Mensch rückwärts über dem Boden, den nur die Füße berühren. Eine schier unmögliche Haltung, erstmals präsentiert in Peking mit chinesischen Wanderarbeitern vom Land. Inwieweit sich Live Art in den Museen halten wird, muss die Zukunft zeigen; für die bezahlten Protagonisten der Künstler, die auch performen müssen, wenn keine Besucher in der Ausstellung sind, ist das jedenfalls keine Kunst, sondern Schwerstarbeit.
Die Ausstellung wird nach Sydney und Moskau touren, andere Orte sind geplant.
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