An der Wand Adolf Wissels Kalenberger Bauernfamilie, am Tisch die deutsche Standard-Familie. Süddeutsche Tracht, im Hirn die braune Schweinebraten-Soße. Das ist die rechte Seite der Medaille bei Herrmann Schmidt-Rahmers Inszenierung nach Ibsens „Ein Volksfeind“, den Titel hat er gleich durch das Unwort des Jahres 2016 ersetzt, und bevor es eigentlich los geht, sich bereits für alles bei der AfD und deren Sprecher für Wissenschaft, Bildung und Kultur in Sachsen entschuldigt. Mut zur Wahrheit. Eva Hüster steht als Tochter Paula im adretten Ewiggestrigen-Outfit dafür an der Rampe des Großen Hauses des Bochumer Schauspielhauses – schließlich gehe es auch um deutsche Werte im Theater, aber man bemühe sich doch redlich. Das ist die erste Antwort im Stück auf die dumpfe Drohung der Rechten, dass man in Zukunft ganz genau auf die Programmatik der Bühnen schauen werde (Zitat: Dr. Hans-Thomas Tillschneider). Dann tritt sie zurück in die Teutonen-Runde, die sich von dieser linksliberalen Seite entsozialisieren wird. Und Vorhang auf – los geht’s in „Volksverräter“ zum Kampf gegen die Toleranzdiktatur auf der anderen Seite der Bühne, dort herrscht die Bürgermeisterin (Veronika Nickl) als Macherin im rotweißen Pseudodesign fürs pseudoschicke Outfit.
Man hat schließlich ein neues Kurbad gebaut, die Investoren und die Gemeinde werden reich, die Bürger werden Beifall klatschen, TV, Radio, Tagespresse – äußerst wichtig. Schmidt-Rahmer inszeniert auf der exakt geteilten Bühne, alle Charaktere sind zum Bersten überzeichnet, vom Alt-68er Kathro (Jürgen Hartmann) rechts, wo eigentlich links ist, zur blonden Muster-Ehegattin (Raphaela Möst), dem eigentlich biederen Badearzt Thomas Stockmann (Roland Riebeling) links, wo das Eichenmobiliar quietscht (original nachgebaut vom rechten Vordenker Kubitschek) und der national denkende Zeitungsredakteur und Katzenkloschreiber Akif Pirincci, sorry natürlich Akif Ripincci (Elwin Chalabianlou) ein und aus geht und Strippen zieht. Ja, lacht ihr nur, ihr Bildungsbürger bei der Premiere. Nicht genug, dass Schmidt-Rahmer den Kern des Ibsen-Dramas beibehalten hat, auch in Westfalen ist das „Heilwasser“ industriell kontaminiert, auch hier kämpft der Leitende Arzt der Thermalbadgesellschaft mbH gegen ein Geschwister, und immer noch funktionieren die Mechanismen des Kapitalismus zum Verschleiern, Verunglimpfen, Lügen. Witzig ist das auch nicht, wird am Schluss allerdings eine neue Wendung bekommen – diese „witzigen“ Wutbürger werden die Macht erringen, Stockmann wird Präsi und das vergifte Heilwasser ist ihnen egal, man kann ja mit dem Verursacher dealen. Und das alles vor einer Wand mit Streptokokken.
Aber soweit ist es ja noch nicht. Schmidt-Rahmer entblößt erst einmal gekonnt die Meinungsvergifter, und das ist absolut großes Kino. Es kulminiert auf einer Bürgeranhörung zum Thermalbad und der Wasserqualität. Ausgerechnet Akif Ripincci übernimmt die Leitung und steuert die Wutbürger beim Tanz-den-Björn-Höcke-Gleichschritt-Rap, während Kathro-Castro bei „Die Schwächen des postheroischen Managements“ irgendwie wohl Kurt-Weill-Töne intoniert, bis Mutter Stöckmann ihren Zorn nicht mehr beherrschen kann. Sie kreischt die Beleidigungen (von „Nutte, fick dich“, bis „Merkel hau ab“), bis ihr die Stimme versagt und sie nur noch leise „ah“ sagen kann und sich im Publikum versteckt. Wenn dann das Video läuft und man sieht, dass dies authentisch eins zu eins die Unterstützer dieser Vollpfosten wiedergibt, bleibt wohl allen das Grinsen im Hals stecken. „Die Wahrheit wird siegen“, sagt noch Trump per Video. Ja klar. Das Land wird ein anderes sein, wenn da nicht Einhalt geboten wird. Steve Bannon weiß wie die USA aussehen, wenn er mit der Gesellschaft fertig ist. Am Schluss sitzt Badearzt Thomas Stockmann da wie der Riddick auf dem Thron der Necromonger. Tosender Beifall und endlich mal wieder eine echte Premieren-Party im großen Haus. Wie wir wissen, hat es alles nichts genützt. Wir haben weit mehr als zehn Prozent Vollpfosten unter uns. Schickt die alle ins Theater.
„Volksverräter!!“ | R: Herrmann Schmidt-Rahmer | Sa 30.9., Fr 13.10., Sa 28.10. 19.30 Uhr | Schauspielhaus Bochum | www.schauspielhausbochum.de
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