Der Blick ist vergittert, von Beginn an. Danny und Helen samt Sohn wohnen in einem so genannten Problemviertel. Die Miete ist billig, das Milieu wenig bürgerlich, aber die „Verkehrsanbindung ist gut“. So kompensiert man den eigenen sozialen Abstieg mit der vermeintlichen gesellschaftlichen Teilhabe via ÖPNV. Die Zimmereinrichtung auf dem Spielpodest im Bochumer Theater unten mit Tisch und Stühlen wirkt zusammengewürfelt, eher geschenkt als erworben. Umstellt ist die Spielfläche von einem kunstvollen Gitter aus verschieden großen Holzrahmen. Es ist ein verstellter, ein geschützter Blick, den die Figuren nach draußen, den die Zuschauer von drei Seiten auf die Protagonisten werfen. In diese lädierte Idylle platzt der junge Liam. Platzt mit blutverschmiertem Hemd mitten ins feierliche Essen von Schwester und Schwager. Ein brachialer Realitätsschock. Doch Liam garniert ihn mit humanitätsduseligen Floskeln, die als bürgerlich-humanistisches Streusalz auf der abschüssigen Mittelstandsebene zunächst Wunder wirken.
Dennis Kellys Stück „Waisen“ markiert genau den Punkt auf der nach unten offenen sozialpsychologischen Richterskala, an dem der Mittelstand ökonomisch ins Rutschen gerät und als Abwehrmechanismen radikale Formen der Abgrenzung von Distinktion bis Rassismus hervorkehrt. Obwohl Liam zunächst eine Geschichte vom einem verletzten Nachbarsjungen erfindet, den er auf der Straßen gefunden, dem er geholfen haben will, schnellt in seiner Schwester Helen sofort der Familieninstinkt hoch. Mit Pferdeschwanz und rotem kurzärmligem Kleid wirkt Minna Wündrich zwar wie eine höhere Tochter, legt aber schnell die beschützenden Krallen um ihren Bruder. Ihren vorbestraften Bruder, der zudem Umgang mit Neonazis hat. Bei Helen liegen die Sensorien blank, so dass ihr Mann Danny schnell in die Schusslinie gerät. Marco Massafras gibt allerdings ein allzu willkommenes Opfer ab. Von Beginn an versteift in seinem Humanismus, zu nachdenklich in seinem Plädoyer für das Opfer und für die Einschaltung der Polizei. Doch als Helen dann ihren Mann beim Beschützerinstinkt packt, erhält Liams Geschichte nur umso absurdere Schlagseite.
Nils Kreutinger lässt in diesem scheinbar schusseligen kleinen Bruder schnell die Berechnung durchblitzen. Seine Naivität, seinen Bewunderung für Schwester und Schwager, seine Willfährigkeit haben etwas Bösartiges. Nur die körperliche Unruhe lässt ahnen, dass ein brutaler Schläger und Folterer in ihm steckt, der schließlich Danny jede Grenze überschreiten lässt. Leonard Becks psychologische, eher gediegene als sprühende Inszenierung setzt zwar stark auf die Schauspieler, wirkt trotzdem gelegentlich wie ein Laborversuch, in dem bürgerliche Wertesubstanzen auf ihre chemischen Reaktionen getestet werden. Bis zu dem Punkt, an dem Danny und Helen den moralischen Offenbarungseid leisten müssen und die Familie in Trümmern liegt.
„Waisen“ | R: Leonard Beck | So 12.6. 17 Uhr, Mo 27.6. 19 Uhr | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
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