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Fließendes Theater in der Bühneninstallation von Andrij Zholdak
Foto: Klaus Fröhlich

Das Ungeziefer ist immer unter uns

27. November 2014

Andrij Zholdak inszeniert in Oberhausen Kafkas „Verwandlung“ – Auftritt 12/14

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Doch „Die Verwandlung“ findet beim ukrainischen Regisseur Andrij Zholdak nicht statt. Eigentlich findet sich das Stück nur in einem sensibilen Subtext wieder, wenn tatsächlich der Text zur Sprache kommt, als Melodie, als Zitat, als Durchgangsposten. Zholdak verwandelt Kafkas Groteske in ein Meer aus Anspielungen, aus Arabesken deutscher Geschichte und den Sehnsüchten der Menschen nach Gleichheit, Brüderlichkeit und Gewinnmaximierung. Ruhig fließt der Strom an Ungeheuerlichkeiten dahin, staunend verfolgt man die Mäander einer Persönlichkeit, die, dem Paris näher als dem Ungeheuer, verzweifelt versucht den konzentrischen Kreisen seiner Lebensumstände zu entfliehen. Dabei hat Gregor von Beginn an Mühe, sich seiner selbst überhaupt bewusst zu werden. Die Rolle als Außenseiter annehmen wird er nie.

Dafür verhält sich seine Familie in ihrer Umwelt auch zu widersprüchlich. Im Atrium einer bereits gewaltsam zusammengeschraubten Äquivalent-Behausung, zwischen hölzernem Dachstuhl und sterilem Plexiglasflachdach sucht Gregor seinen Weg zur Erlösung. Zholdak weigert sich dabei beharrlich, theatralischen Zwangsmustern zu folgen, er selbst schwingt zwischen den möglichen existenziellen Polen hin und her, zitiert die 1920er Jahre mit ihren großen Stummfilmgesten, lässt imaginäre Züge vorbeirauschen und den Überwachungsstaat in die gute Stube der Samsas. Das Ungeziefer wird dabei lieber an Stäben geführt wie Kinderspielzeug aus alten Tagen.

Das Projekt Kafka beginnt in einer morgendlichen Konferenzrunde im Seminarraum. Man macht sich fertig für das Monitoring Familie, der kleinsten Einheit im Staat, hier die Totalität selbst. Vater, Mutter, Tochter, sie alle tragen danach Masken im Gesicht und Narben am verschlossenen Herzen. Man trachtet nach der heilen Welt, man trachtet nach Besitztum und Anerkennung. Da kommt die Verwandlung zum falschesten Zeitpunkt, gerade hat man sich arrangiert mit dem schönen Leben, hat den Versorger im Haus, der Vater ihm sogar die lange Latex-Nase angeboten (und angeklebt), doch der will scheinbar nicht mehr mitspielen, entwickelt sich zum Ungeziefer, das natürlich ausgerottet werden muss. Aber erst einmal lebt man mit Speis und Trank und Dienstmädchen (Nola Friedrich) nebenher, muss sich nur dem Prokuristen (megagrotesk: Henry Meyer) beugen. Die Regie inszeniert eine Ahnung von Normalität, um sie sogleich wieder zu zerstören. Kameras machen die Gesichter permanent präsent auf der Leinwand. Dann hat Gregor/Paris gewählt, doch wie in der griechischen Mythologie hat das seinen Preis, der göttliche Wahn ist nur von kurzer Dauer. Die Macht der Herrschenden ist groß, ihr Urteilsvermögen eng begrenzt. Nur das Dienstmädchen erkennt kurz die Aura hinter der eingestürzten Fassade. Wie in einem Kokon gefangen gleiten die Ereignisse zäh an Gregor vorbei. Nach zwei Stunden ist seine Kraft verbraucht.

Zholdak begreift sich wieder als Ausnahmetheatermacher, der den Betrieb unterläuft und keine leichte Kost liefern will. Er liefert theoretischen Überbau und installiertes Bühnenbild, sein Kafka scheint gleich ein sich bewegendes Gemälde zu sein, in dem Moritz Peschke genau die Stimmung Gregors trifft und dabei ständig sein ideales Spiegelbild (Bastian Kabuth) vor Augen hat. Anna Polke und Michael Witte leben als deutsche Eltern förmlich die groteske Situation, die sie herbeigeführt haben. Als es finanziell eng wird, müssen sie den jüdischen Geschäftsmann hofieren, als Gregor endlich tot ist, scheinen die Parameter im Gefüge der Gesellschaft wieder zu funktionieren. Er war der soziale Körper selbst, der sich aufgefressen hat, und so beendet man den trügerischen Zustand, ist sich nicht zu schade, den letzten Zeugen, das Dienstmädchen, zu erschlagen. Dies ist der Boden, aus dem die Schlange längst gekrochen ist. Die Schwester findet endlich Anschluss. Ein Countertenor im SS-Mann-Kostüm bildet mit ihr die neue kleinste Einheit zur Händel-Arie. Die Zukunft kann kommen. Es war ein großer Abend. Eine Hommage an die Kraft der Kreation, wenn auch die große echte Leinwand unter dem Neonlicht erstaunlicherweise weiß blieb.

„Die Verwandlung“ | R: Andrij Zholdak | Fr 9.1. 19.30 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 85 78 184

PETER ORTMANN

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