Klug und unabhängig ist die 13-jährige Éva Heymann. Mit ihrem Fahrrad kurvt sie durch Budapest und trifft ihre Freundinnen. Auch mit der gleichaltrigen Márta Münzer ist sie gerade noch gemeinsam Fahrrad gefahren, man trinkt zuhause eine Tasse Kakao, als es an der Tür klingelt. Die Gestapo verhaftet die kleine Márta vom Esstisch weg, verschleppt sie, später wird Márta in Auschwitz ermordet. Ein Schock für Éva, der man als Mädchen mit jüdischer Abstammung zunächst „Das rote Fahrrad“ konfisziert. Am 13. Februar 1944 beginnt sie Tagebuch zu führen, ihr Geburtstag, an dem die Mutter nicht zur Feier kommt. Das tut ihr weh, wie sie dem Tagebuch anvertraut. Heute nennt man Èva Heymann die „ungarische Anne Frank“, nachdem ihr Tagebuch auftauchte, das sie in den drei Monaten vor ihrer Deportation geschrieben hatte.
Über 60 Jahre mussten ins Land gehen, bis nun der junge Nischen Verlag das Buch unter dem Titel „Das rote Fahrrad“ auf Deutsch vorlegt. Ernö Zeltner, dem schon ausgezeichnete Übersetzungen von Sándor Márai gelangen, übersetzte den Text aus dem Ungarischen. Ein wenig schade ist, dass Zeltner meinte, einen Mädchenton in das Buch einbringen zu müssen. Dennoch besitzt der Text, der vom Alltag in der besetzten Stadt erzählt, eine emotionale Wucht, die einem den Atem nehmen kann. Éva lebte mit Juszti, einer Vertrauten der Familie, die Köchin und Kindermädchen in einem war, zusammen. Ihr kann sie das Tagebuch gerade noch zustecken, als man sie abholt. Das Buch erzählt auch von den Familienverhältnissen im Hause Zsolt, denn die Mutter Àgnes lebte mit Béla Zsolt zusammen. Èva mochte ihren Stiefvater, wie man aus ihren Aufzeichnungen erfährt. Er war einer der bekanntesten Publizisten Ungarns im Krieg und ein erklärter Gegner des faschistischen Horthy-Regimes.
Àgnes gelang es mit Béla in die Schweiz zu entkommen, Éva konnte sie jedoch nicht schützen. Im Begleitmaterial zum Text beschreibt Juszti, dass es möglich war, die Verfolgten zu retten, mit unkonventionellen Mitteln, aber dazu musste man die eintrainierte Wohlanständigkeit hinter sich lassen. Juszti bereut später, diesen Schritt nicht vollbracht zu haben. Sie gibt Ágnes das Tagebuch, die es sogleich publiziert. 1951 nimmt sich Ágnes, die in Ungarn immer noch bekannte Journalistin, das Leben. Man vermutet, dass die Schuldgefühle, Éva nicht ausreichend beigestanden zu haben, der Auslöser für ihre Tat waren. Auch wenn Ágnes in den Aufzeichnungen der Tochter nicht gut weg kommt, so kann die Vermutung nicht ausgeschlossen werden können, dass Ágnes Passagen des Tagebuchs geglättet hat. Ein Umstand, der kaum eine Rolle spielt, wenn man einmal in den Text eingetaucht ist. Wie auf einer Zeitreise, erlebt man die Welt des Jahres 1944 in all ihren intimen Details und die sind auf erschreckende Weise unserer Gegenwart in ihrer bürgerlichen Normalität sehr ähnlich. Auch deshalb schneidet der Verlust des Fahrrads tief ins Herz.
Ágnes Zsolt: Das rote Fahrrad. Deutsch von Ernö Zeltner. Nischen Verlag, 160 S., 18,90 €
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