Claudia Ott ist Musikerin. Als Mitglied eines Ensembles, das zur Eröffnung der Ausstellung „Schätze des Aga Khan Museums“ im März 2010 im Berliner Gropiusbau spielte, besichtigte sie nach dem Empfang die prächtigen Kunstobjekte. Dabei fiel ihr in einer abseits gelegenen Vitrine eine Handschift auf, die mit anderen Gegenständen aus Andalusien zu stammen schien. „Ich las die Überschrift, in roter Tinte geschrieben: Das Buch mit der Geschichte von Hundertundeiner Nacht – und war sofort elektrisiert“, erinnert sie sich. „Diese Handschrift, die kein Orientalist zuvor gekannt hatte, war eine absolute Sensation!“, sagt sie.
Tatsächlich stammt die Handschrift aus dem Jahr 1234 und ist damit 500 Jahre älter als die bisher älteste erhaltene Version der sogenannten „kleinen Schwester“ von „Tausendundeine Nacht“. Claudia Ott ist auch Orientalistin und Übersetzerin und so wurde die Übertragung von „Hundertundeine Nacht“ für sie zu einer unbedingten Herausforderung. Die hat sie mit Bravour bestanden, die Geschichten von Jungfrauen, Lindwürmern, neugierigen Prinzen, Rittern und untreuen Ehefrauen lesen sich weich und rund und bereiten Vergnügen wie ein gutes Stück Schokolade, das man sich im Mund zergehen lässt. In dieser ersten Deutschen Übersetzung gelingt ihr der Brückenschlag zwischen dem historischen Märchenton, den sie nur dezent anklingen lässt und einer klaren, fließenden Satzmelodie, in die etwas von der Zielstrebigkeit unserer Zeit eingegangen ist.
Dieser Charakter ist durchaus auch im Original enthalten. Denn die Geschichten sind kürzer und in sich geschlossener als die Texte aus „Tausendundeine Nacht“. Das mag sich auch aus ihrem Verbreitungsgebiet erklären, das nicht wie bei der großen Schwester im Orient lag, sondern im arabischen Westen, also in Nordafrika und Spanien. Zwar spielen die Geschichten in China, Indien, Persien und den arabischen Ländern, aber die Handschrift stammt aus al-Andalus, dem arabischen Spanien.
So kann man Geschichten lesen, in denen die ersten Bewegungsmelder und mehr als 200 Jahre vor Leonardo da Vinci atemberaubende Flugmaschinen beschrieben werden. Die Geschichten sind denn auch um einiges älter, da es sich bei der Handschrift um eine Abschrift vorangegangener Texte handelt. Spannend sind sie zu lesen, eine feine Erotik und Lebensfreude ist in sie eingewebt und die Geschichten schließen stets mit einem Happy End.
101 Nacht. Aus dem Arabischen ins Deutsche übertragen und kommentiert von Claudia Ott. Manesse Verlag, 334 S., 49,95 €
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