Der Titel „Marcel Proust – in Bildern und Dokumenten“ klingt schmucklos. Aber hinter ihm verbirgt sich nicht nur für die eingeweihte Gemeinde der Proust-Kenner eine Schatztruhe literarischer Kostbarkeiten. Die Ur-Großnichte Patricia Mante-Proust hat gemeinsam mit Mireille Naturel - einer Kennerin des Werkes - Dokumente aus dem Familienbesitz und den Schubladen von Tante und Großmutter zusammengetragen, die die Freude an Prousts Texten wieder zusätzlich entfacht. Denn während die Frage nach den biographischen Bezügen zwischen Werk und Person bei den meisten Schriftstellern nur Langeweile hervorruft, ist sie bei Proust von besonderem Interesse. Seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ liegt ein dicht geknüpftes Netz aus Personen, Beziehungen und Orten zugrunde, das den beständigen Dialog zwischen Realität und Fiktion befeuert. Auch deshalb bemerkt die Ur-Großnichte, dass „die Proustianer Objekten eine große Bedeutung (zu messen), ebenso wie der „Erzähler“ selbst“. Das wurde ihr schon als Kind bei den alljährlichen Treffen der Anhängerschaft im Grand Hotel von Cabourg in der Normandie klar, wo sie sich von den älteren Herrschaften ein ums andere Mal entzückt in die Wangen kneifen lassen musste, nachdem die für sie vollkommen ereignisarmen Feierstunden ein Ende gefunden hatten.
Der prächtige Bildband, den sie und Mireille Naturel nun in der Edition Olms vorlegen, ist deshalb auch mehr als ein weiteres Coffeetable-Book, das schleunigst ins Regal gehört. Vielmehr lädt es auf kluge, verführerische Weise zu Entdeckungen ein. Entdeckungen nicht nur der magischen Madeleines, sondern auch von Häuser, Bildern, Szenen, Städten und faszinierenden Männern und Frauen. Die beiden Herausgeberinnen zeigen die Dokumente, sie setzen sie mit ihrem Wissen und mit Fotografien unserer Gegenwart in Verbindung und sie lassen die Texte des Romans in Auszügen erklingen. So kann sich der Zauber der Romanwelt ebenso wie Prousts genauer analytischer und zugleich liebender Blick auf Menschen und Gegenstände perfekt entfalten. Ein Buch, das man immer wieder in die Hand nimmt und jedem Leser, der sich noch nicht an Prousts Werk herangetraut hat, einen köstlichen Einstieg ermöglicht.
Marcel Proust – in Bildern und Dokumenten. Hrsg. Patricia Mante-Proust, Texte von Mireille Naturel. Deutsch von Stefanie Kuballa-Cottone. Edition Olms. 194 S., zahlr. Abb., 49,95 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Geschichten, die duften und klingen
Claudia Ott entdeckt die Handschrift „101 Nacht“ - Literatur 12/12
Odyssee im „Schneesturm“
Vladimir Sorokins großartiger Roman über die Zerrissenheit Russlands - Literatur 12/12
Eine Liebesgeschichte wie keine
Meg Rosoffs Debüt „So lebe ich jetzt“ - Literatur 12/12
Ein sympathisches Ungeheuer
„Die Komplizen“ von Georges Simenon - Literatur 12/12
Eine Welt voller Leben
„Der alte Mann und das Meer“ und der Sog des Erzählens - Literatur 12/12
Das Tagebuch der „ungarischen Anne Frank“
Àgnes Zsolt veröffentlichte „Das rote Fahrrad“ Literatur 12/12
Nitzberg zündet Bulgakow
„Meister und Margarita“ in prachtvoller Neuübersetzung - Literatur 12/12
Das Papier als größtes Glück
Bedeutung des Papiers - Literatur 12/12
Eine Frau, schöner denn je
Elisabeth Edl übersetzt „Madame Bovary“ neu - Literatur 12/12
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25