Das Beste kommt zuletzt. 15 Jahre wartete Ernest Hemingway, bis die Geschichte vom kubanischen Fischer, der einen riesigen Marlin fängt, soweit in ihm herangereift war, dass er sie 1950 in kurzer Zeit niederschreiben konnte. Sie sollte ihm 1953 den Pulitzer Preis und ein Jahr später den Nobelpreis für Literatur einbringen. Bis zu seinem Tode 1961 blieb dieser Text sein letztes vollendetes Werk.
Dass „Der alte Mann und das Meer“ zu den erstaunlichsten Texten des 20. Jahrhunderts zählt, kann man leicht selbst überprüfen. Man muss nur die erste Seite aufschlagen und mit Lesen beginnen, danach legt niemand mehr diese schmale Erzählung aus der Hand. Zumal Werner Schmitz ihr mit einer vollständigen Neuübersetzung wieder den Glanz der ersten Stunde zurückgegeben hat. Nie auftrumpfend oder sentimental, erhält Hemingways Prosa eine Geschmeidigkeit, die ihren Gehalt an Trauer und Lebensfülle eher noch erhöht. 84 Tage hat der Fischer Santiago nichts gefangen, außer einem Jungen, meidet jeder in dem kleinen kubanischen Fischerort den Umgang mit ihm. Fischer sind abergläubisch und man fürchtet, sein Unglück sei ansteckend. An diesem 85. Tag beißt jedoch ein gigantischer Fisch an, der den Mann in seinem Boot zunächst weit aufs Meer hinaus zieht, dann beginnt ein tagelanger Kampf zwischen dem Mann und dem Tier.
Hemingway hat nicht nur eine exemplarische Heldengestalt geschaffen. Helden definieren sich über die Einsamkeit, die sie durchschreiten. Dieser alte Mann ist einsamer als alle anderen Helden, weil sein Kampf in vollkommener Einsamkeit erfolgt, niemand ist Zeuge seiner gewaltigen Leistung. Aber wichtiger als die makellose Story mit ihrem genialen Ende, ist die Art und Weise, in der Hemingway aus den Augenwinkeln seines gebrochenen Mannes erzählt, dessen Potenz nur uns als Lesern offenbar wird. Denn immer dann, wenn der alte Mann zu erzählen beginnt, beginnt die ganze Welt lebendig zu werden. Das Meer, der Himmel, die Vögel, der Fisch, in allem wird der Respekt vor der Kreatur spürbar, indem man zu überlegen beginnt, wie sich das Leben wohl für die anderen Geschöpfe anfühlen mag. So erleben wir im Scheitern des Fischers die unermessliche Schönheit des Lebens, die letztlich eine Idee von Frieden vorstellbar macht, die Hemingway aus dem dramatischen Kampf entwickelt, der nur vordergründig ein Ringen mit dem Fisch ist. Denn wie bei einem Torero - deren Tragödien Hemingway ja ebenfalls bewunderte - ist es nicht die Kreatur, die den Feind darstellt, sondern die Menschen, vor denen es die Würde zu bewahren gilt. So endet diese berühmteste aller Short Stories auch mit dem Blick der anderen auf das Ergebnis des tagelangen Ringens auf dem Meer.
Ernest Hemingway. Der alte Mann und das Meer. Deutsch von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, 152 S., 18,95 €
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