Im fernen Dorf Dolgoje ist eine Krankheit ausgebrochen, die man Schwarze Pest nennt und die Menschen in eine Art Zombies verwandelt. Doktor Garin verfügt zwar über ein Serum, das die Menschen retten könnten, nur muss er durch diesen „Schneesturm“, der immer bedrohlichere Ausmaße annimmt. Garin findet nach einigen Komplikationen einen Kutscher mit einem Schneemobil, gemeinsam machen sie sich auf die Reise.
Vladimir Sorokins Roman „Schneesturm“ geht ab wie ein Schlitten mit frisch gewachsten Kufen. Auch wenn er nicht in einer Gemeinschaftsarbeit von Tolstoi, Tschechow und Gogol geschrieben worden ist, klingt er doch so. Die Männer kämpfen sich durch die endlosen Weiten Russlands, sie machen Station auf einem Hof, der Doktor erlebt eine stürmische Liebesnacht, es gibt Defekte am Schlitten. Sorokins Erzählstimme zieht die Leser in das Drama der Männer hinein, bald sitzt man mit ihnen neben den dampfenden Pferden. Und es ist nicht nur die Natur, die sich in den Weg stellt, auch Riesen und Zwerge verhindern die Weiterfahrt. Sorokins Geschichte bewegt sich vom 19. bis ins 22. Jahrhundert. Eine Zeitreise, in der „der Schneesturm die Funktion einer Bühne und einer allmächtigen Gewalt annimmt“, erklärt der Russe.
Immer schon wollte Sorokin - der zu Russlands beliebstesten Autoren zählt - eine solche Wintergeschichte schreiben. Er skizziert den Sturm wie eine Person, wenn er sagt: „Der Schneesturm kommt langsam, er ist keine Lawine. Er verzaubert zunächst, hat keine Eile und erstickt dann das Leben ganz langsam“. Der Roman gibt auch eine Vorstellung davon, dass die Distanz zwischen Provinz und Hauptstadt immer größer wird und heute schon nicht mehr zu überbrücken ist. Eine Erkenntnis, die auch eine politische Dimension besitzt, wenn man etwa an die Verurteilung der drei jungen Frauen der Band Pussy Riot denkt, die von vielen Russen begrüßt wurde. In Sorokins Roman, der so flüssig erzählt ist, öffnet sich immer wieder der Blick auf einen doppelten Boden, der die Ereignisse in das Licht der politischen Ereignisse unserer Gegenwart rückt. „Der Schneesturm ist nicht einfach Schnee mit Wind“, klärt uns Sorokin auf, „sondern er ist die Quintessenz der russischen Metaphysik, die einem unendlichen Raum gleicht, in dem die Menschen verloren gehen und den die Kultur letztlich nicht zu greifen vermag“.
Putins organisierte Jugendbewegung verhöhnt Sorokin auf YouTube, indem sie seine Bücher demonstrativ ins Klo wirft. Der 57-Jährige zeigt sich davon wenig beeindruckt, sein Roman bietet Spannung, Humor und eine atmenden Sinnlichkeit, die das Prädikat Weltliteratur verdient.
Vladimir Sorokin: Der Schneesturm. Deutsch von Andreas Tretner. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 208 S., 17,99 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Geschichten, die duften und klingen
Claudia Ott entdeckt die Handschrift „101 Nacht“ - Literatur 12/12
Eine Liebesgeschichte wie keine
Meg Rosoffs Debüt „So lebe ich jetzt“ - Literatur 12/12
Madeleines und andere Gegenstände der Verführung
Die Ur-Großnichte zeigt „Marcel Proust – in Bildern und Dokumenten“ - Literatur 12/12
Ein sympathisches Ungeheuer
„Die Komplizen“ von Georges Simenon - Literatur 12/12
Eine Welt voller Leben
„Der alte Mann und das Meer“ und der Sog des Erzählens - Literatur 12/12
Das Tagebuch der „ungarischen Anne Frank“
Àgnes Zsolt veröffentlichte „Das rote Fahrrad“ Literatur 12/12
Nitzberg zündet Bulgakow
„Meister und Margarita“ in prachtvoller Neuübersetzung - Literatur 12/12
Das Papier als größtes Glück
Bedeutung des Papiers - Literatur 12/12
Eine Frau, schöner denn je
Elisabeth Edl übersetzt „Madame Bovary“ neu - Literatur 12/12
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25