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Georges Simenon: Die Komplizen

Ein sympathisches Ungeheuer

17. Dezember 2012

„Die Komplizen“ von Georges Simenon - Literatur 12/12

„Es kam plötzlich und mit voller Wucht. Und dennoch war es so, als habe er schon immer darauf gewartet.“ Er weiß sofort, dass die Katastrophe unvermeidlich sein wird, und er die Schuld an ihr trägt. Joseph Lambert verursacht einen Unfall mit einem Reisebus, der Kinder aus den Ferien nach Hause bringt, niemand überlebt. Lambert fährt weiter, keiner hat ihn gesehen. Unachtsam war er, weil er in dem Moment des Unglücks seine Hand zwischen den Schenkeln von Edmond, seiner Sekretärin, ruhte. Lambert ist Bauunternehmer, nach der Besichtigung einer Baustelle waren die beiden vom Weg abgebogen, und hatten eine leidenschaftliche Begegnung miteinander.

„Die Komplizen“ nennt Georges Simenon seinen großartigen Roman, den Diogenes jetzt innerhalb seiner Reihe mit 50 Romanen des Belgiers in einer frischen Übersetzung von Stefanie Weiss vorlegt. Obwohl Simenon den Text 1955 veröffentlichte, wirkt er in seinem sinnlichen Realismus vollkommen gegenwärtig. Wie in einem Film erleben wir zunächst die Situation des Unfalls. Natürlich schlagen dann die Wellen in den Medien und der nahegelegenen Kleinstadt hoch. Alle wollen sie wissen, welches Ungeheuer die Kinder auf dem Gewissen hat. Wir lernen das Ungeheuer kennen, indem wir mit Lambert auf leisen Sohlen in die Firma fahren, ein Familienunternehmen, das kräftig expandiert. An der Spitze Lambert mit seinem Bruder, der ein vorbildlich angepasster Kleinbürger mit Frau und Kindern ist.

Joseph rebelliert hingegen, er trinkt schon einmal ein Glas zuviel, begehrt die Frauen. Sein Bruder hat ihn im Betrieb auch schon mit Edmond überrascht. Mit seiner Ehefrau Nicole hingegen ist der Funke erloschen. Simenon faltet die Karte des bürgerlichen Innenlebens Seite für Seite aus. Nichts wirkt konstruiert, Simenon bezieht jedes Detail aus einer Situation, alles wird auf dem direkten Weg aus dem Leben der Menschen erzählt. Wobei untergründig natürlich die Frage für Spannung sorgt, ob man Lambert nun auf die Schliche kommt, oder nicht. Das Verständnis, das wir für ihn entwickeln, die wir ihn immer besser kennen lernen, werden die anderen nicht aufbringen. Dennoch, er ist kein Verbrecher, aber bei Entdeckung ist mit Erbarmen nicht zu rechnen.

So erleben wir ihn in einem eigenartigen Zwischenzustand, gut getarnt durch seine gesellschaftlich etablierte Stellung, beobachtet er, wie die Hatz angefacht wird, wie verlogen die Medien die Situation ausschlachten. Auch so ein Phänomen, an dem sich bis heute nichts geändert hat. Simenon beobachtet so genau, sein Blick auf die Männer und Frauen des Kleinstadt-Kosmos ist so lustvoll bei aller Desillusionierung, dass man sich schon nach der Hälfte dieses im Grunde schmalen Romans nicht des Eindrucks erwehren kann, ein umfangreiches Epos gelesen zu haben. So nahrhaft, so voller Bilder ist seine Prosa und sie trägt einen bis zum letzten Satz, in dem sich Lamberts Schicksal auf tatsächlich atemberaubende Weise wieder in einem bloßen Augenblick erfüllt.

Georges Simenon: Die Komplizen. Deutsch von Stefanie Weiss. Diogenes Verlag, 198 S., 9 €.

Thomas Linden

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