Das Leben ist eine Kirche, der Glaube ein Putzlappen. Mit diesem Reini - gungs mittel hat der Klerus manch heimlichen Spermaflecken so lange entfernt, bis das rohe Holz unter dem heiligen Blattgold hervorlugte. Folgerichtig steht auf der Bühne im Mülheimer Theater an der Ruhr hinter dem pseudoromanischen Halbrundbogen ein roher Hackblock aus Holz als Zimmeraltar. Er ist Inventar eines christlichen Pfarrhaushaltes, in dem die Sitten streng sind und das eigene Laster milde geduldet wird. Regisseur Thomaspeter Goergen hat mit seinem Dramaturgen Helmut Schäfer gleich zwei „böse“ Stücke zu einem verschmolzen. Oskar Panizzas Theatergroteske „Das Liebeskonzil“ (1894) spielt im Himmel, wo der senile Gott den Teufel konsultiert, um die marode Menschheit endlich wieder auf den rechten Pfad zu zwingen. Mitstreiter sind ein debiler Jesus und die abgezockte Jungfrau Maria. Dahinein schnitten die Mülheimer Theatermacher Szenen aus Hein - rich Lautensacks Schwank „Die Pfarrhauskomödie“ (1911), und das so ge - schickt, dass ihr Ergebnis beim Zuschauer auch als eigenständige Fusion durchgehen würde.
Die unheilige Theatermesse mit seriöser Tisch-Ikonografie beginnt im Pfarr - haus, wo die Haushälterin Ambrosia (Rosmarie Brücher) gerade schwe ren Herzens für einige Monate zur „schwerkranken Mutter“ fahren muss, allerdings zum Entbinden. Vater des Sprösslings ist Hochwürden (Rupert J. Seidl). Noch schnell ein paar Schnitzel gehackt, ein Ave Maria geheult, dann ist die Bühne frei für Aushilfsköchin Irma (Simone Thoma), die die Situation längst durchschaut hat und sich Vincenz, den noch gläubigen Kooperator des Pfarrers (Steffen Reuber) schnappt. Zwischendurch tritt ein Schulbub auf, der etwas später nackt auf dem Hackblock liegt und gewaschen wird. Er taucht als Cherub (immer noch nackt) im Himmel auf. Hier tobt die Dekadenz, Gott ist blind und Päderast, der sich vom neuen Engel - chen schon mal gern den heiligen Stab massieren lässt. Irgendwie ist ihm im Laufe der Jahrtausende die Autorität flöten gegangen, die scheint jetzt die Jungfrau Maria zu besitzen, auch wenn sie bei jedem Gedanken ans Sexuelle würgen muss. Von heiliger Demut oder Gnade ist nichts mehr übrig, der Cherub wird nebenbei mal kurz entmannt, dem tuntigen Erzengel fehlt beim Gesang schließlich eine Knabenstimme. All das inszeniert Thomaspeter Goergen nicht als derbe Komödie oder gaglastige Comedy, sehr ruhig und unheimlich unwitzig fließt die Handlung dahin, die Choreografie ist unaufgeregt, die Schauspieler sind durchweg prä zise Schöpfer ihrer Charaktere. Das seltene Lachen im Publikum wirkt da kaum befreiend, ein wunderbarer Schachzug angesichts der wohl ewigen Zeitlosigkeit dieses Wahnsinns. Gerade hat die „heilige Familie“ die neuesten Nachrichten von der Erde erhalten, von Gräueltaten selbst in den Kir - chen (der Hof des Borgiapapstes Alexander VI. wurde gestrichen), da be - schließen sie drakonische Strafen, schließlich „wird das Gesindel nie besser“. Der Teufel (Marco Leipnitz) muss es richten, und da kommt er auch schon reingewuselt, im liturgischen schwarzen Gewand mit Aktenkoffer, schließlich haben wir ja nicht mehr das Mittelalter. Beim göttlichen Mee - ting schlägt er als Strafe eine Krankheit vor, die beim Geschlechtsakt übertragen wird und zum siechenden Untergang führt. „Aber die Seele muss ge - rettet werden können“. Das schafft Gott noch zu verhandeln, dann ist die christliche Aufsichtsratssitzung beendet, die mit ihrem Ergebnis auch ge - zeigt hat, dass die Götter den Menschen für ihre Existenz brauchen. Viel - leicht eher als umgekehrt. Der nächste Filmschnitt führt wieder ins Pfarrhaus, wo sich die beiden Paare gerade mit ihrer Kirche arrangieren: vertuschen, leugnen, weitermachen. Ihr Glaube scheint ihren Lebensmut eher zu lähmen. Aber ihre Kirche hat keine Zukunft mehr. Was sie nicht wissen: Der Teufel hat ausgerechnet einem Sängerknaben das Virus implantiert. Er wird die Seuche, man einigte sich auf den Namen Syphilis, wohl ziemlich schnell verbreiten. Das Publikum dankte mit anhaltendem Applaus, insbesondere Fabio Menéndez als immer nackter Cherub erntete auch spitze weibliche Begeisterungs krei - scher. Einigen scheint das Liebeskonzil auch nahegegangen zu sein. „So etwas wollte ich heute Abend nicht sehen“, sagte eine ältere Dame beim Hinausgehen. Ich habe den Satz irgendwie nicht verstanden.
Liebeskonzil Do 21.10. 19.30 Uhr 0208 599 01 88
Kultur ist ein mächtiger Menschenmagnet. Manchmal kann sie sogar Kirchen wieder füllen, das freute auch den Domprobst der Bochumer Kulturkirche Christ-König. Für die Fidena-Produktion „King Kongo“ waren junge Musiker aus Kinshasa angereist und erzählten in Lingala und Französisch eine bittersüße Geschichte: Einst war ihr Heimatland ein afrikanisches Königreich, eins der größten überhaupt. Dann wollte Leopold II. von Belgien Anfang des 20. Jahrhunderts unbedingt auch eine Kolonie besitzen. Da in seinem Land niemand Interesse daran hatte, wurde das Kongo - delta dann eben sein privater Besitz. Und wie so üblich unter Kolonialmächten ging das nicht ohne Sklaverei, Ausbeutung und Hände abhacken. Erst 1960 wurde der Kongo unabhängig, Patrice E. Lumumba erster Minis ter - präsident. Doch der war in den USA nicht wohl gelitten, wahrscheinlich versteckte er auch „weapons of mass destruction“, und wur - de deshalb ermordet. Die Macht ergriff Joseph Mobutu, kein Freund seiner Landsmänner, aber mit großen Taschen und Helfershelfern bei CIA und den belgischen Exherren. Und die Hände der Kongolesen zittern heute immer noch. Soweit die verkürzte Historie, die die ehemaligen Straßenkinder im christlichen Querschiff als wildgewordene Brassband aufführten. Mit unglaublichem Spielwitz, mit kindlichem Übermut und einer gehörigen Portion vom ganz bösen Humor trompeteten sie den Besuchern das immerwährende Unrecht um die Ohren. Und da saßen sie da, beklatschten brav die Musikeinlagen, freuten sich über den quirligen elfjährigen Dieumerci Mbyavanga, der wie ein Großer seine Rolle als wissender Trommler ab - spulte. Eigentlich merkten nur wenige, dass unsichtbare Spiegel Ursache und Wirkung zurück warfen, das der ernste Kern im wilden Tanz viel ernster ist als die lustige Geschichte vom armen König aus dem klitzekleinen Land, der wohl viel Platz brauchte für seinen vielen Reichtum, der sich aber eben auch schnell als Handabhacker entpuppte. „Für ein Stückchen Brot und einen Schluck Rotwein haben die Vorfahren unser Land verkauft“, sagt Saxo - phonistin Nathalie Mbiya Kadima (14) heute. Die Jugendlichen haben das Kernproblem verstanden, doch wir wollen das immer noch nicht zur Kenntnis nehmen, mit ein paar Euros in den Klingelbeutel ist es da nicht getan.
Infos: 0234 477 20
Der Weg zu den Sternen führt für Anneliese und Peter vorbei an der glühenden Sonne, vorbei an der ISS im Orbit, dann müssen sie noch durchs ganze Sonnensystem und die Treppe rauf ins Dunkle, wo der gute alte Trabant an der Gasometerkuppel baumelt. Die gigantische 25 Meter-Kugel ist nicht nur monumentale Attraktion der Kulturhauptstadt-Ausstellung „Sternstunden“, sie ist auch mächtige Kulisse für „Peterchens Mondfahrt“, dem Kinderstück von Gerdt von Bassewitz, das das Oberhausener Theater in einer adaptierten Theaterfassung dort unter der hell schimmernden Kugel präsentiert. Mit wenig technischem Aufwand hat Intendant Peter Carp inszeniert, mit vielen optischen Reizen fängt er die Kinder, die auf schmalen Kissen hocken und ihre Geräusche hallend in den alten Gasspeicher verfolgen. Ein bisschen unheimlich ist das schon so nah am Mond. Anneliese und Peter müssen gerade in ihr fluffiges Kingsize-Bettchen, die Mutter liest ihnen noch eine Gutenachtgeschichte vom Maikäfer Sumsemann vor. Dessen Großvater hat bei einer kleinen Auseinandersetzung mit dem bösen Holzdieb im Wald sein sechstes Beinchen eingebüßt, das nun nach der Verbannung des Böse wichts auf dem Mond liegt. Sumsemann (Marek Jera, wer sonst) ist nun der letzte der fünfbeinigen Art. Aber das Märchen wäre keins, wenn die gute Fee der Nacht nicht eine Lösung parat hätte. Kinder können gemeinsam mit dem ängstlichen Käfer auf die Reise gehen und das verlorene Beinchen wiederholen, wenn sie noch nie ein Tier gequält haben. Die Kinder vor der Bühne staunen immer noch über die vielen Mondkrater und die merkwürdige Akustik, da macht sich das Trio auch schon auf die Reise, freundlich unterstützt vom Sand - mann und den Breakdancern der Gruppe EMotion, die in dieser abwechslungsreichen Ins - ze nierung die wichtigen Fabelwesen vom Don - nermann bis zum Regenfritze tanzen, in kindgerechten Leuchtmasken und mit furioser Choreografie. Die Mondrakete bringt alle dann zum Mond, das Bein wird erbeutet, und Eltern und Kinder sind beruhigt. Eine schlüssige Aufführung, die als Nebeneffekt auch die Besucherzahlen des Gasometers in die Höhe treibt.
So 3.10. 18 Uhr
Gasometer Oberhausen
0208 857 81 84
Das Grauen kommt schleichend, nicht nur für die Zuschauer, auch für die Schauspieler auf der Bühne. Das Theaterstück „Verbrennungen“ des libanesisch-kanadischen Autors Wajdi Mouawad kennt keinen Ort, benennt weder Täter, noch Opfer mit Nationalitäten, dennoch ist der Nahe Osten wohl Schauplatz des antiken Ringens um Krieg, Niedertracht und Ver - gel tung. Im Bochumer Prinz Regent Theater wurde so dicht inszeniert, so intensiv gespielt, dass zwischen Schluss und Applaus jene kurze Stille entstand, die nur sehr selten vorkommt. Jeanne und Simon ist die Mutter gestorben, nachdem sie monatelang nicht mehr gesprochen hatte. Zwei Briefe hat sie ihnen hinterlassen: einen an den totgeglaubten Vater, einen an einen bis dato unbekannten Bruder. Die Suche nach den eigenen Wurzeln führt die Geschwister gezwungenermaßen in die kollektive Tragödie eines Krieges ihrer Mutter zurück, einer brutalen, menschenverachtenden Ausein - andersetzung, von der sie keine Ahnung hatten und die ihre eigene Realität am Ende in Stücke schneidet. Theaterchefin Sibylle Broll-Pape schafft es in einem spärlichen Bühnenbild mit klugem Realismus und drehbarer Videowand, diese bösartige Atmosphäre stückchenweise aufund wieder abzubauen. Eine Kamera pirscht sich dazu an das überzeugende Ensemb le heran, erzeugt monochrome Videobilder, dokumentiert Vergangenes, sichert Spuren. Selten bricht die Regisseurin das Grauen mit humorvollen Einlagen, lieber lässt sie die Schauspieler wie in kurzen Standbildern verharren. Sie zeigt dabei auch den ungewöhnlichen Lebensweg einer mutigen Frau im eigenen Feindesland, die ihren Weg nur scheinbar als normale kanadische Mutter zu Ende geht. Zumindest bis zu dem Tag, an dem sie ihrem Vergewaltiger vor dem Tribunal wieder gegenübersteht, der sie endgültig verstummen ließ. Am Ende bleiben eigentlich nur noch Opfer des Krieges auf der Bühne zurück, und dennoch weht eine Ahnung von Hoffnung durch den Raum. Es war ein bewegender Theaterabend.
Prinz Regent Theater Bochum
0234 77 11 17
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