Sie öffnet sich langsam, die Dunkelkammer der Seele. Die freigibt, was Masken und Tageslicht zuvor verbargen. Doch ist sie einmal geöffnet, kann alles ganz schnell gehen. Geheime Ängste und tiefer Zorn setzen sich frei und erfüllen die Nacht mit Zittern, Schreien und Schlägen. Von diesen Momenten, in denen sich der Mensch in seiner Menschlichkeit offenbart, sich seiner Tugenden entbehrt und sich ein Stück mehr an Realität enthüllt, erzählt die Inszenierung „Blutmond“ von artscenico performing arts, die nun im Dortmunder Theater im Depot Premiere feierte. Das Stück in der Regie von Rolf Dennemann vereint dabei verschiedene künstlerische Elemente, um den assoziativ miteinander verbundenen Klang- und Bildwelten Raum zu geben. Ein anfängliches und ein abschließendes Gypsy-Swing-Konzert des Stringtetts bilden dabei den heiter-melancholischen Rahmen der zum Teil verstörenden theatralen Tanz-Performance von Elisa Marschall, Elisabeth Pleß und Joanna Stanecka.
Melancholie und Bedrohung
„What a little moon can do“ oder „Moonlight baby“ – vor der Projektion eines blutroten Mondes besingt Nikola Materne in rotem Kleid und in rotes Licht getaucht mit honigweicher Stimme den Mond. Eine Gitarre (Rainer Achterholt) und ein Kontrabass (Winfried Bückmann) begleiten sie. Das Thema des Blutmondes (eine besondere Form der Mondfinsternis), das in der Inszenierung immer wieder videografisch (Video: Frank Mählen) und musikalisch (Musik: Rolf Dennemann) aufgenommen wird, scheint Ausdruck jener Gefühlsmelange aus Melancholie und Bedrohung zu sein und somit auch eine Vergegenständlichung der unerklärlichen Abgründe des Menschlichen.
Besonders eindrücklich erzählt die Körperlichkeit der Performerinnen von den menschlichen Dämonen. Mal zielstrebig und kraftstrotzend, mal morbide zitternd, doch immer akkurat und exakt bewegen sie sich über die Bühne und tanzen und spielen meist stumme Szenen der Besessenheit und des Kampfes. Dabei ziehen sie sich immer wieder andere fleischige Masken mit hässlichen Fratzen über den Kopf. Ob es die Masken des Alltags oder die Masken des Dämons sind? Eigene oder fremde Masken? Gibt man es auf, ganz genau begreifen zu wollen, worum es beim Bühnengeschehen geht, und lässt sich auf die Bilderwelten ein, die das Ensemble erschafft, reihen sich bald ganz eigene Assoziationen an die Kette aus Musik, Video, Tanz, Bühnenbild, Licht und Text.
Mal kraftstrotzend, mal morbide
Artscenico performing arts unter der künstlerischen Leitung von Rolf Dennemann agiert bereits seit 1991. Dabei entstehen häufig interdisziplinäre Projekte mit tänzerischen und theatralen Elementen. Im März hatte das Ensemble die Probenarbeit unterbrechen müssen, und auch wenn man momentan dazu neigt, in jedem Vorkommnis, in jeder künstlerischen Arbeit, eine Verbindung zur Corona-Pandemie zu entdecken: Auch das Virus scheint uns unsere Menschlichkeit auf eine erschreckende Art und Weise vor Augen geführt zu haben. Und so leuchtet für einige Augenblicke statt des Mondes ein riesiges Covid-19-Virus drohend von der Videoleinwand hinab ins Publikum.
Blutmond | weitere Aufführungen geplant für Februar 2021 | Theater im Depot Dortmund | 0231 900 806
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Das Stück zur Stunde“
Jens Dornheim inszeniert in Dortmund „Der Reichsbürger“ – Premiere 11/20
Das Glück der Erwerbstätigkeit
Das 35. Theaterfestival Favoriten in Dortmund – Prolog 07/20
Monströse Macht Mettigel
„Die Räuber.Live“ in Dortmund – Theater Ruhr 02/19
Pädagogisch wertvoll
„Shockheaded Peter“ im Theater im Depot – das Besondere 02/19
Im Dreieck wird geschwindelt
„Der Weibsteufel“ in Dortmund und Essen – Theater Ruhr 12/18
„Wir mussten uns mit jeder Produktion neu erfinden“
Jens Dornheim und „Der Weibsteufel“ in Dortmund – Premiere 10/18
Das entzauberte Böse
Taboris „Mein Kampf“ in Dortmund – das Besondere 05/18
Welt unter Glas für Brillenträger
„Die Wand (360°)“ von Thomas Krupa – Prolog 08/22
Indigener Widerstand
„Encantado“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 08/22
Auf diesem geschundenen Planeten
„Weiße Nächte / Retour Natur“ des Theater an der Ruhr – Prolog 08/22
Gegen die Normalität
„Hundertpro Festival“ im Ringlokschuppen Ruhr – Festival 08/22
„Fabulieren, was möglich sein könnte“
Anne Mahlow über das Dortmunder Favoriten Festival – Premiere 08/22
Mit Dogma auf einer Theaterbühne?
„Das Fest“ am Grillo Theater – Prolog 07/22
Ausbeutung der Zukunft
„Out of the Blue“ auf Pact Zollverein – Festival 07/22
„Die müssen unser Zusammenleben noch 70 Jahre lang ertragen“
Anne Britting über die Junge Triennale – Premiere 07/22
Die im Dunklen sieht man nicht
„Dreigroschenoper“ im Rahmen der Ruhrfestspiele – Auftritt 07/22
Existenzieller Spagat
Cooperativa Maura Morales beim asphalt Festival Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 07/22
Die ewige Suche nach dem Glück
Drei Open-Air Theatergeschichten für den Sommer – Prolog 07/22
Knotenpunkt der Kultur
Bahnhof Langendreer feiert 36-jähriges Jubiläum – Prolog 07/22
Tacheles und Tamtam
RuhrHochDeutsch in Dortmund – Festival 07/22
„Aufklärerisch mit großem Unterhaltungswert“
Regisseur Peter Konwitschny über seine Arbeit am „Ring des Nibelungen“ – Interview 07/22
Fehlt es an klassischem Repertoire?
Geringe Zuschauerzahlen im Schauspiel Dortmund – Kommentar 06/22
Leiden am Fremdideal
Satoko Ichiharas „Madama Butterfly“ beim Impulse Theater Festival – Festival 06/22
Rassistische Lehrjahre
„The Kids Are Alright“ beim Impulse Theater Festival – Festival 06/22
Widerstand ist machbar, aber unbeliebt
„Die fetten Jahre sind vorbei“ am Rottstr 5 Theater – Prolog 06/22