Nachdem sich am Vortag auf der trailer-wortschatzbühne noch die Wissenschaftler über mehrere Stunden verbal gebattlelt hatten, wurde es am Samstag zunehmend politisch. Kabarettisten, Liedermacher und andere Standup-Entertainer gaben sich die Ehre und brachten das Publikum zum Lachen, Nachdenken und stifteten es fast noch zur Revolte gegen die herrschenden Verhältnisse an. Dass dies nicht geschah, lag wahrscheinlich nur daran, dass man nicht den jeweils nächsten Gig verpassen wollte und am Ende so viel Wortwitz und Message erst einmal verdaut werden wollten.
Klicken Sie auf eines der Bilder und starten Sie so die Bildergalerie (46 Bilder).
Der Wettergott meinte es in diesem Jahr gut mit Bochum Total. Keine orkanartigen Regenschauer und keine Temperaturen, die im Massenbetrieb zum Hitzeschlag führen. Stattdessen mildes Sommerklima, das zum Verweilen einlud. Schon zur Mittagszeit füllte sich der Platz vor der trailer-wortschatzbühne mit Menschen, die versuchten, den rasend-schnellen Wortkaskaden des erprobten Poetry-Slammers und Bühnenpoeten Marco Jonas Jahn zu lauschen. Abwechselnd versorgte er die Zuhörerschaft mit gedichteter Wortakrobatik und Kurzgeschichten aus der eigenen Biografie. So sorgten die Kindheitserfahrungen mit den Bundesjugendspielen ebenso für breites Schmunzeln wie seine Bonitätsempfehlung für die Ratingagenturen dieser Welt. LmaA (Leckt mich am Arsch) gab es statt der Bestnote AAA für Moody‘s, Fitch und co. Dass er es politisch kann und dies mit raffinierten Wortspielen zu verbinden versteht, zeigte Jahn auch seinen Überlegungen für das eigene Sparpaket. Durch Weglassen von zunächst Artikeln und dann Vokalen kam am Ende nur noch ein unverständliches Kauderwelsch heraus. Manchmal ist mehr eben doch mehr.
Weniger wortgewandt, dafür aber noch viel bissiger wurde es mit dem nächsten Auftritt des Kölner Kabarettisten Robert Griess. Der Bühnen-Vollprofi zeigte eindrucksvoll, dass er es versteht, eine Meute aufzuwiegeln und dabei auch noch bestens zu unterhalten. Reihenweise ließ er Politiker verbal über die Klinge springen, indem er sie mit deren eigenen – oft grenzdebilen – Worten zitierte. Ob Ursula von der Leyen, Karl-Theodor („ab und zu“) Guttenberg oder Verteidigungsminister Thomas „die Misere“, jeder, der es verdiente, bekam sein Fett weg. Die Finanzwirtschaft kam insgesamt nicht gut weg an diesem Tag. Wie schon zuvor Marco Jonas Jahn und nach ihm Fred Ape ließ auch Robert Griess kein gutes Haar an Bankern und Gesinnungsgenossen in der Politik, indem er feststellte, dass sich „Schwarz-Gelb und Schwarzgeld“ nur durch einen Buchstaben unterschieden. In seinem provokant-pointierten Auftritt als Kölner Unterschichts-Proll legte er dann jegliche verbale Zurückhaltung ab und ließ eine sehr kritische „Volkes Stimme“ zu Wort kommen. Privates und öffentliches Trash-TV bekam ebenso sein Fett weg wie die neue Bioladen-Dekadenz der oberen urbanen Mittschicht. Das Publikum johlte, die von Griess geplante Revolte der Massen blieb allerdings vorerst noch aus.
Denn das Volk bekam stattdessen ein wenig Opium gereicht, und zwar in Form von wie immer gut recherchierten und launig erzählten Fußballanekdoten. Bestseller-Autor und VfL-Edelfan Ben Redelings, bundesweit bekannt für seine Klo-Lektüren, erzählte auf routinierte Art Dönnekes aus 50 Jahren Bundesliga. Ohne Assistenz durch einen prominenten Sidekick wie auf seinen legendären Scudetto-Abenden gab der große Archivar der Fußball-Randnotiz der Menge, wonach sie verlangte: Bekanntes und weniger Bekanntes von Ente Lippens, Wolf-Dieter Ahlenfelder und Heribert Faßbender. Dessen Bonmot „Toulouse or not to lose, das ist hier die Frage“ erheiterte die Leute an der trailer-wortschatzbühne ebenso wie zuvor schon etliche bei einer ausgiebigen Sitzung.
In guter alter Liedermacher-Manier eroberte im Anschluss der Dortmunder Poet und Entertainer Fred Ape die „hearts and minds“ des gut-aufgelegten Bochumer Publikums. Nur mit der Akustik-Gitarre und der eigenen Stimme ausgestattet übertönte er spielend die wummernden Bässe der anderen Bühnen im Hintergrund. Musikalisch an Hannes Wader und Konsorten erinnernd, zeugten Apes Texte von abgründigem Humor, böser Ironie und feinem Sarkasmus. Die eigenen Alltagsbelastungen als Vater einer erwachsen werdenden Tochter wurden ebenso vertont wie die beschränkte Lernfähigkeit des Menschen in Sachen Vorurteilsüberwindung. Der politischen Klasse wurde mit „Politikwissenschaft“ ein eigener Song gewidmet und dem Ruhrgebiet gleich deren zwei. Das eine witzig-selbstbewusst („Hör zu, Bayer!“), das andere melancholisch-wehmütig.
Des Themas Ruhrgebiets-Identität nahm sich auch der „Kabarettist mit Klavier“ Matthias Reuter an und traf mit seinem Ruhrpott-Reggae den Nerv der Zuschauer. Die Diskrepanz zwischen typischem Alltag im Revier und mittlerweile nicht mehr wegzudenkender Ruhrpott-Folklore brachte der Oberhausener musikalisch schwungvoll und textlich spitz zum Ausdruck. Weitere Highlights im Programm: die Pflege-WG der mit IT-überforderten Senioren und die lustige Geschichte des Mandrills Moe, der mit Angela Merkel um die Häuser zieht. Bei ihren Abenteuern treffen die beiden ungleichen Freunde im wahrsten Sinne des Wortes den Rapper Bushido.
Als auf den meisten anderen Bühnen schon der Saft abgedreht wurde, liefen auf der trailer-wortschatzbühne Honigdieb noch zu großer Form auf. Die an diesem Abend dreiköpfige Band rund um ihren extrovertierten Sänger Sir Hannes hatte eine nicht eben kleine Fangemeinde mitgebracht und stimmte ein in den kulturkritischen Grundtenor des Tages mit der Frage „ob es noch echte Künstler gebe“. Mit ihrer eigenwilligen Mischung diverser Musikstile und vor allem der leidenschaftlichen Bühnenshow rissen sie die wogende und textsichere Menschenmenge mit und sorgten für einen angemessenen Tagesabschluss an der trailer-wortschatzbühne.
Und dann gab es ja noch eine Premiere. Nach den Auftritten von Ben Redelings, Fred Ape und Matthias Reuter wurde den Wartenden die Zeit mit Kurzfilmen des Blicke-Festivals versüßt. Zwar behinderte die dem guten Wetter geschuldete Spiegelung des Bildschirms die Sicht ein wenig, doch blieb so mancher vorbeiziehende Festival-Besucher fasziniert stehen und folgte aufmerksam der ungewohnten Bühnenaufführung. Fazit: Ausdrucksstarke Bilder als ideale Ergänzung einer Bühne, bei der sich sonst alles um das Wort dreht.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Ungeschönt aufs Leben blicken
32. blicke-Filmfestival in Bochums Endstation Kino – Film 01/25
Grenzen und Gewalt
31. Filmfestival blicke in Bochum – Festival 12/23
Humanoide Blumen
„Speaking Flowers“ beim Filmfestival blicke – Festival 12/23
Hattingen, Tian’anmen, Weltall
Weitblick-Preis für „Hochofen II“ beim Filmfestival blicke – Festival 12/23
Parolen und Pop-Prominenz
Bochum Total am zweiten Juli-Wochenende – Festival 07/23
„Die Sichtung ist das Highlight!“
Katharina Schröder zum 30. Jubiläum des blicke Filmfestivals – Festival 01/23
Mehr als Ruhrgebietsromantik
Filmfestival blicke: Jubiläumsauftakt im Bahnhof Langendreer – Festival 12/22
An die Arbeit
Filmfestival blicke: Sonntagsmatinee in Bochum – Festival 12/22
Soziale Beziehungen im Brennpunkt
Filmfestival blicke in Bochum – Festival 11/22
Rock and Creole
trailer-bühne bei Bochum Total 2022 – Festival 08/22
Die große Rückkehr
Bochum Total 2022 – Festival 08/22
Talentschmiede
trailer-bühne am BoTo-Samstag – Festival 07/22
„Eine Welt, die aus den Fugen ist“
Kulturamtsleiter Benjamin Reissenberger über das Festival Shakespeare Inside Out in Neuss – Premiere 07/25
Der verhüllte Picasso
„Lamentos“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 07/25
Von Shakespeare bis Biene Maja
Sommertheater in NRW – Prolog 06/25
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25
„Das Publikum ist verjüngt und vielfältig“
Opernintendant Heribert Germeshausen zum Wagner-Kosmos in Dortmund – Interview 06/25
„Da werden auch die großen Fragen der Welt gestellt“
Kirstin Hess vom Jungen Schauspiel Düsseldorf über das 41. Westwind Festival – Premiere 06/25
Morgenröte hinter KI-Clouds
Das Impulse Festival 2025 in Mülheim, Köln und Düsseldorf – Prolog 05/25
Das Vermächtnis bewahren
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Bühne 05/25
Rock mit Käfern, Spiel mit Reifen
41. Westwind Festival in Düsseldorf – Festival 05/25
Von und für Kinder
„Peter Pan“ am Theater Hagen – Prolog 05/25
„Der Zweifel als politische Waffe“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Premiere 05/25
Entmännlichung und Entfremdung
Festival Tanz NRW 2025 in Essen und anderen Städten – Tanz an der Ruhr 05/25
Von innerer Ruhe bis Endzeitstimmung
Die 50. Mülheimer Theatertagen – Prolog 04/25