Alle Handgriffe und Bewegungen mussten in der Kokerei Hansa sitzen. Nach strengsten und modernsten Rationalisierungsmaßstäben ordneten Unternehmer in diesem Produktionskomplex die arbeitenden Körper an. Leiblichkeit gehörte zum Räderwerk im Verwertungs- und Akkumulationsprozess. Heute ist die 1928 entstandene Kokerei in Dortmund-Huckarde ein Industriedenkmal. Tiere und Pflanzen erobern sich die Landschaft allmählich zurück.
Hier, in der Waschkaue der Kokerei, siedelt die Performancekünstlerin Alexandra Pirici ihre Arbeit „Human Landscape“ an. Darin geht es um die Eingriffe in und Optimierungen von Landschaften und von menschlichen Körpern – eine Disziplinierung, die auch die Produktionsstätten im Ruhrgebiet prägte. Pirici stellt ihre Performance im Rahmen der Reihe „Ruhr Ding: Territorien“ von den Urbanen Künsten Ruhr vor.
Bereits viele ihrer bisherigen Arbeiten begreift Pirici als künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum. In ihrer Heimatstadt Bukarest konfrontierte die Rumänin etwa in einer Choreographie Monumente wie die Reiterstatue von Carol I vor dem Ceaușescu-Palast mit dem menschlichen Körper. Leiblichkeit, Rekontextualisierung oder Erinnerungspolitik vermengen sich in ihren Performances.
So auch in „Human Landscape“, wie sie an diesem Abend im Pact Zollverein verspricht: „Mich interessierte erneut der Aspekt des Körpers in Territorien.“ Und die „Territorien“ entlang der Ruhr waren bekanntlich jahrelang von einer Körperpolitik gekennzeichnet, die auf Effizienz, auf Rationalisierung setze. Die Grundlagen dafür entstanden wenige Jahre zuvor in den USA: Als der Unternehmensberater Frank Gilbreth gemeinsam mit seiner Frau mittels Kameras Bewegungsabläufe von ArbeiterInnen analysierte. Ihre Ausgangsfrage: Welche Handgriffe sind unnütz? Und wie können diese optimiert werden? „Sie haben Bewegungen mess- und reproduzierbar gemacht, Effizienz und Selbstoptimierung begann mit diesen Studien“, so Pirici. „Für mich bedeutet das auch, die Geschichte von Modernität und Produktivität zu folgen: Von einer menschlichen Maschine zu einer menschlichen Ressource.“
Und diese Geschichte führt auch ins Ruhrgebiet. Denn diese Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen, besser bekannt als Taylorismus, hielt ihren Siegeszug auch im Bergbau- und der Stahlproduktion. Bis zur Deindustrialisierung. An die Stelle der Rationalisierung sind seitdem andere Zauberworte getreten: Flexibilisierung oder Digitalisierung. All diese Prozesse verschütten den je eigenen Antrieb, Arbeit oder Wissen zu organisieren.
Hier knüpft Piricis Arbeit an, wie sie sagt: „Dieser Ausdruck von Wissen ist für mich wichtig bei der Performance.“ Dafür lässt sie in der Waschkaue der Kokerei Hansa ein Hologramm installieren, um einen virtuellen Körper entstehen zu lassen. Dieser setzt sich nicht nur aus Bruchstücken zusammen, sondern interagiert auf der Bühne mit einer menschlichen Performerin. Pirici greift dafür auf die Technik der „Motion Capture“ zurück, eine Bewegungserfassung, die künstlerisch am prominentesten etwa in Filmen wie „Der Herr der Ringe“ erprobt wurde. „Es muss eine Balance zwischen der bildlichen und der lebendigen Präsenz von Körpern geben“, sagt sie. Um diese gesellschaftliche Umklammerung menschlicher Körper kreist ihre Performance: vom Zwang in der Industrie bis hin zur Datenwertschöpfung von Google, Amazon und Co.
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