Ohne Krieg und in einer Demokratie wäre all das nicht möglich gewesen, resümierte Heiner Müller Anfang der 90er Jahre über das Theater im Allgemeinen und sein Werk im Besonderen. Das klang zynisch in den Ohren seiner ZeitgenossInnen. Doch die Bühne war für den DDR-Dissidenten der Ort, an dem die universellen Fragen gestellt werden: Freiheit und Gerechtigkeit, Leben und Tod. Aktuell erfahren diese zeitlosen Fragen eine Renaissance auf den deutschsprachigen Bühnen. Weniger vom eigenen, postmodernen Dekonstruktionstheater, sondern von syrischen Exil-AutorInnen und RegisseurInnen wie Mohammad Al Attar oder eben Mudar Alhaggi. Letzterer probt aktuell mit dem Kollektiv Ma‘louba für das Stück „Days in the Sun”.
Im Mittelpunkt des Stücks steht die junge Frau Farah (gespielt von Baian Aljeratly), die sich der Revolution in Syrien anschließt. Sie will sich von den gesellschaftlichen und familiären Zwängen befreien. Doch es kommt anders. Alhaggi nahm das zum Ausgangspunkt, um unter anderem den politischen und sozialen Wandel in seinem Herkunftsland zu beleuchten. Sein Ziel war jedoch keine dokumentarische Chronik in der Tradition des dokumentarischen Theaters wie zuletzt etwa Mohammad Al Attars „The Factory” im Rahmen der Ruhrtriennale. „Es geht da um patriarchalische Strukturen”, erklärt Alhaggi über „Days in the Sun“. So sind es die universellen Fragen, die das Kollektiv im Rückblick auf die revolutionären Ereignisse auf der Bühne verhandeln will. Kein Stück über Krieg und Revolution. Diese Motive möchte das Kollektiv Ma‘louba, das zuletzt das Stück „Your Love is Fire” inszenierte, auch hinter der Bühne berücksichtigen. Multikulturell, divers, basisdemokratisch, so beschreiben die Ensemblemitglieder ihre eigene künstlerische Arbeit. Im Theater an der Ruhr unter der Intendanz von Roberto Ciulli hat das Tradition.
„Es geht darum, deine eigene Revolution, deine eigene Stimme in dieser Gesellschaft zu finden“, erklärt Darstellerin Amal Omran, die als eine der renommiertesten arabischsprachigen Darstellerinnen gilt. In der Inszenierung spielt die Syrerin Donya, eine Freundin von Farah. Omran erlebte die gesellschaftliche Aufbruchstimmung im Assad-Staat vor Ort. Umso einfacher war es für sie, sich direkt in die erste Szene hineinzuversetzen, in der Farah und Donya an ihrer ersten Demonstration teilnehmen – und es mit dem ersten Kuss vergleichen. Omran: „Bei der ersten Demonstration hatte ich auch dieses Pochen im Bauch. Als wir diese erste Szene probten, kamen mir diese Erinnerungen hoch.“
Für das Ensemble ging es da auch um einen Rückblick: Welche Hoffnungen gab es? Welcher Wandel hat sich in der Gesellschaft ereignet? Und welche Zukunft haben die Menschen im Land. „Die Revolution war für Freiheit, aber die Revolution fand sie nicht“, blickt Omran zurück. Was ungelöst blieb, soll auf der Bühne verhandelt werden, als universelle Tragödie. „Für mich persönlich gab uns die Revolution den Schock, den wir brauchten“ erinnert sich Mudar Alhaggi. „Denn es kamen Fragen auf, die wir uns vorher nicht stellten.“ Ähnlich meinte es auch Heiner Müller mit seinem Bonmot über den Bühnenblick auf Krieg und Unterdrückung.
„Days in the Sun" | R: Mudar Alhaggi | Do 4.10., Fr 5.10., Fr 19.10. 19.30 Uhr | Theater an der Ruhr Mülheim | www.theater-an-der-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Das unnahbare Greifen
„Geheimnis 3“ am Theater an der Ruhr in Mülheim
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Das Trotzen eines Unglücks
Die neue Spielzeit der Stadttheater im Ruhrgebiet – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
„Theater wieder als Ort einzigartiger Ereignisse etablieren“
Dramaturg Sven Schlötcke übertiefgreifendeVeränderungen am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/23
Ibsen im syrischen Knast
„Up there“ am Theater an der Ruhr – Prolog 11/22
Auf diesem geschundenen Planeten
„Weiße Nächte / Retour Natur“ des Theater an der Ruhr – Prolog 08/22
Vom Universum geblendet
„Vom Licht“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 04/22
Gegen den Mangel an Erkenntnis
„Vom Licht“ in Mülheim – Prolog 03/22
Nebel, Schaum und falsche Bärte
„Nathan.Death“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 11/21
„Eine Welt, die aus den Fugen ist“
Kulturamtsleiter Benjamin Reissenberger über das Festival Shakespeare Inside Out in Neuss – Premiere 07/25
Der verhüllte Picasso
„Lamentos“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 07/25
Von Shakespeare bis Biene Maja
Sommertheater in NRW – Prolog 06/25
„Da werden auch die großen Fragen der Welt gestellt“
Kirstin Hess vom Jungen Schauspiel Düsseldorf über das 41. Westwind Festival – Premiere 06/25
„Das Publikum ist verjüngt und vielfältig“
Opernintendant Heribert Germeshausen zum Wagner-Kosmos in Dortmund – Interview 06/25
Tanz als Protest
„Borda“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 06/25
Morgenröte hinter KI-Clouds
Das Impulse Festival 2025 in Mülheim, Köln und Düsseldorf – Prolog 05/25
Rock mit Käfern, Spiel mit Reifen
41. Westwind Festival in Düsseldorf – Festival 05/25
Das Vermächtnis bewahren
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Bühne 05/25
Von und für Kinder
„Peter Pan“ am Theater Hagen – Prolog 05/25
„Der Zweifel als politische Waffe“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2025 in Recklinghausen – Premiere 05/25
Entmännlichung und Entfremdung
Festival Tanz NRW 2025 in Essen und anderen Städten – Tanz an der Ruhr 05/25
Jenseits des männlichen Blicks
„Mother&Daughters“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 04/25