Was sind das für Menschen, die uns auf den fotografischen Bildern von Pieter Hugo so durchdringend anschauen? Sie nehmen verschiedene Rollen ein, gehören verschiedenen Schichten und auch Generationen an. Sie stammen aus unterschiedlichen Ländern und damit Kulturen. Außer in seiner Heimat Südafrika hat Pieter Hugo beispielsweise – in den Serien in der Ausstellung – in Nigeria und Ghana, San Francisco und Peking fotografiert. Pieter Hugo wurde 1976 in Johannesburg geboren, er lebt heute mit seiner Familie in Kapstadt. Er ist im postkolonialen Südafrika aufgewachsen und hat 1994 das offizielle Ende der Apartheit erlebt; gewiss hat ihn das besonders gegenüber Vorurteilen, gesellschaftlichen Klischees, für Außenseiter und die Suche nach der eigenen Identität sensibilisiert. Auch der Umgang mit geschichtlichen Umwälzungen, die auf das Verhältnis der Bevölkerungsschichten zueinander einwirken, gehört zu den Fragestellungen seiner fotografischen Recherchen. Damit hat sich Pieter Hugo in den letzten Jahren zu einem der gefragtesten und interessantesten Künstler mit Fotografie entwickelt. Es überrascht deshalb etwas, dass die Ausstellung im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte als Übernahme aus dem Kunstmuseum Wolfsburg erst seine zweite in einem deutschen Museum ist. Sie ist großartig. Hugo geht seinen Anliegen in Serien aus Einzelbildern nach, deren Fertigstellung mitunter Jahre dauern kann. Mithin reflektieren diese Fotos, die meist in Farbe aufgenommen sind, Konzepte des Dokumentarischen. Tatsächlich handelt es sich um inszenierte Fotografie, für die er die Personen im Bild arrangiert, Pathosformen der Kunstgeschichte hinzuzieht und seine Akteure sogar einkleidet. Er verdichtet, aber er verstellt nicht.
Das trifft in Dortmund gleich auf die erste Serie zu. Sie zeigt Kinder in der wilden Natur, in Kleidung, die außerhalb des Alltäglichen ist, mit dem aufmerksamen Blick von Erwachsenen. Ein schwarzer Junge liegt, gehüllt in einen beigen Mantel, barfuß ausgestreckt auf dem Rücken auf dem grünen Rasen, frontal von oben fotografiert, so dass die Perspektive kippt. Er scheint aufgerichtet vor einer Wand aus Gras zu schweben. Die vermeintliche Idylle erhält etwas körperlich Bedrängendes, nichts scheint zu stimmen. Die Aufnahmen dieser Serie mit dem Titel „1994“ sind in Ruanda und Südafrika entstanden. Hintergrund sind zwei zentrale Ereignisse aus Hugos unmittelbarem Erfahrungshorizont im Jahr 1994: der Völkermord in Ruanda und die ersten demokratischen Wahlen in Südafrika, aus denen Nelson Mandela als Präsident hervorgegangen ist. Hugo zeigt in dieser Serie die Kinder als Generation, die nichts von dem selbst erlebt hat. „Die ruandischen Kinder warfen in mir dieselben Fragen auf wie meine eigenen Kinder. Tragen sie das gleiche Gepäck wie ihre Eltern? Wird die Geschichte für sie genauso belastend sein?“, schreibt er im Katalog zu dieser Serie.
Eine andere Fotoserie zeigt hingegen, wie Pieter Hugo weniger inszeniert als auf den richtigen Moment wartet. Zwischen 2005 und 2007 hat er in Nigeria eine berüchtigte Gang begleitet, die als Schausteller mit Hyänen, Affen und Felsenpytons durch das Land reist. Er hat sich nicht für die Kunststücke der dressierten Tiere interessiert, sondern für die Machtverhältnisse und sozialen Strukturen, die hinter all dem stehen und die er nun geradezu symbolhaft hervorholt. Entstanden sind Schilderungen größter Aggressivität und der innigsten Zärtlichkeit zwischen Mensch und Tier, brillant komponiert und mit äußerster Intensität im Gesichtsausdruck – vom Menschen ebenso wie vom Tier. Ein Idol von Pieter Hugo ist der Kölner Fotograf August Sander (1876-1964) mit seinen Typologien von unterschiedlichen Berufsgruppen am Arbeitsplatz. Aber Hugos eigene Aufnahmen wenden sich häufig gebrochenen Identitäten zu. Immer erzeugt er hochemotionale und gesellschaftlich vielschichtige Bilder, die erst nach und nach ihr Potential und ihre Brechungen zu erkennen geben: Hugo liefert damit zugleich eine Analyse des Zustands seines Heimatlandes, aber auch unserer globalen Zivilisation. Großartig!
Pieter Hugo. Between the devil and the deep blue sea | bis 13.5. | Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund | www.dortmund.de/de/freizeit_und_kultur/museen/mkk/start_mkk/
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