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Inszenierung mit Betroffenen: „X-Adra“
Foto: Ahmed Naji

Von brutaler Wirkung

04. Mai 2018

„Theaterlandschaft Mittelmeer“ im Theater an der Ruhr – Bühne 05/18

Die in dieser Form einzigartige Reihe „Theaterlandschaft Mittelmeer“ an Mülheims Theater an der Ruhr versteht sich als Plattform für Künstler aus dem südlichen Mittelmeerraum. Auch 2018 bezogen Aufführungen von dort in Roberto Ciullis Theater Stellung „zur sozialen und politischen Verfasstheit ihrer Gesellschaft“. Neben dem syrischen Beitrag „X-Adra“ mit realen Betroffenen enthielt das Programm auch fiktionale Stücke. So inszenierte der libanesische Autor und Regisseur Issam Bou Khaled mit „Carnivorous“ eine Farce als dramatische Familiengeschichte: Ist der Sohn eines Beiruter Ehepaars etwa ein Terrorist? Hinzu kam etwa „Kharif“ (Irak), eine physisch angelegte Produktion mit dem Ansatz, die Gewalt im Land intensiv zum Ausdruck und ins Bewusstsein zu bringen. Mit „May He Rise And Smell The Flagrance“ war auch Musiktheater zu dem so übergreifenden Thema „Männlichkeit und Trauer“ zu sehen. Eine Woche, die von Form wie Inhalt vielfältige Facetten des Theaters dieser Weltregion an die Ruhr brachte.

In diesem Kontext ist auch „X-Adra“ zu sehen, ein Abend von Ramzy Choukair zum syrischen Foltergefängnis Adra. Man könnte sagen: Wollte man diesen Oral-History-Abend mit manchem „Flüchtlingsprojekt“ vergleichen, würde es dort unterm Strich nicht besonders herausstechen. Zwar verbietet es sich angesichts der Schicksale der auftretenden Frauen, nach ungewöhnlicheren künstlerischen Ansätzen zu rufen. Nur sind dokumentarische oder ähnliche Abende mit Geflüchteten heute auch anderswo keine Seltenheit (nachdem zur Migration der letzten Jahre anfangs gern Theater über Betroffene statt mit ihnen gemacht worden war). „X-Adra“ ist da kaum anders – wenn auch immer neu von brutaler Wirkung.

Die AkteurInnen sprechen von Grenzerfahrungen in dem Gefängnis, berüchtigt unter Präsident Assad wie auch schon seinem Vater Hafiz al-Assad. Eine Frau beschreibt, wie sie in Haft eine brutale Vergewaltigung miterleben musste. Eine andere erzählt von einer politischen Protestaktion und stellt damit ihren Haftgrund in den Fokus. Die Beteiligten treten dazu einzeln nach vorn oder bilden Formationen. Ästhetisch nutzt die Inszenierung einfache, intensive Mittel, einmal beispielsweise greifen sich alle ein schwarzes Tuch und hüllen sich darin ein. Zur Haft gehören Regeln, die beim Zuschauer so schrecklich ankommen, weil sie überhaupt notwendig sind und damit vielsagend für die Zustände: „Wenn dich die Flöhe beißen, trag deine Kleidung auf links.“ Die Notizen dazu werfen sie nun zu Boden und trampeln in einer Szene laut darauf herum. Der Umgang mit traumatischen Erfahrungen ist als Aufbäumen gestaltet.

Den Text zu „X-Adra“ (das „X“ verweist auf die unbekannte Zahl ähnlicher Schicksale) verfasste Wael Qadour auf Basis von Interviews mit Opfern; sie sprechen ihn auf Arabisch zu deutschen Übertiteln. Dass sie selbst es sind, keine lesenden Schauspieler, sorgt für einen authentischen Zugang. Selten aber ist dieser Ansatz nicht, und nicht ganz einleuchten mochte der Hinweis, das Stück sei im Vergleich von einer besonderen „formalen Strenge“.

Aber diese Kritik trifft nicht den Punkt. „Theaterlandschaft Mittelmeer“ ist eben nicht eigentlich eine Reihe zu Migration. Und muss sich deshalb nicht mit punktuellen Beiträgen zur Flüchtlingslage messen. Dass „X-Adra“ auch auf Assads Vater Bezug nimmt, zeigt ebenfalls, dass das Stück nicht ein Beitrag von vielen zum neuesten Geschehen ist und sein will. Denn dem eigensinnigen Mülheimer Theater geht es nicht bloß darum, für die deutsche Gesellschaft ein Thema aufzubereiten, weil es in dieser Gesellschaft gerade virulent ist. Das galt immer schon – und in den zwei letzten Jahren galt es in besonderer Weise: 2017 gründeten Exilsyrer an Ciullis Theater mit „Ma'louba“ ein eigenes Kollektiv. Diese Truppe war 2018 nicht nur erneut zu Gast, sie ist inzwischen auch so etabliert, dass sie auf Tour geht: Ihr neues Stück „Ma'louba“ hat sie unter anderem in Berlin gespielt, ehe sie es zum Abschluss der aktuellen „Theaterlandschaft“ noch einmal als Eigenbeitrag in Mülheim zeigte – wo alles begann und weitergeht.

Martin Hagemeyer

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