Der Dortmunder Norden befindet sich nicht gerade auf der Sonnenseite des Ruhrgebiets, auch dann nicht, wenn diese heftig vom Himmel brät. Arbeitslosigkeit, Leerstand und schlechte Laune geben den Takt vor. Gut, dass es unerschrockene Freigeister gibt, die dem etwas entgegensetzen. Der Dortmunder Kulturort Depot gehört dazu. Er bietet Raum für zahlreiche Initiativen, Projekte und Orte der freien Künste – gastronomisches Angebot inklusive.
Einmal im Jahr veranstaltet dort der Verein Parzelle das Visual Sound Outdoor Festival. Im Fokus stehen frei improvisierte Musik und Free Jazz, begleitet von DJ-Sets am Abend. Kuratorin Angelika Hoffmann lud dazu auch in diesem Jahr mehrere Dutzend Musiker:innen aus dem In- und Ausland nach Dortmund, um an drei Tagen auf drei unterschiedlichen Bühnen (zweimal Open Air, einmal drinnen) in unterschiedlichen Kombinationen miteinander zu spielen, zu improvisieren und jede Menge Spaß zu haben.
Der Freitag ist mit fünf Konzerten und einem DJ-Set besonders vollgepackt. Das Trio Ab Baars (reeds), Meinrad Kneer (b) und Bill Elgart eröffnet den Abend mit einem komplett frei improvisierten Set, bei dem man hören kann, dass die drei Musiker schon seit vielen Jahren miteinander spielen. Die Übergänge sind fließend, die Musik ist variabel, der Ton eher ruhig – bis hin zum leisen Säuseln. Gegen Ende fällt die Spannung etwas ab, was den positiven Gesamteindruck allerdings nur leicht schmälert. Ein gelungener Auftakt.
Energetisches Duo
Das US-Duo mit der Saxophonistin Ornella Noulet und dem Schlagzeuger Egon Wolfson steigert den Energielevel um ein Vielfaches. Vor allem Noulet zeigt, weshalb sie zu den großen Neunentdeckungen der vergangenen Jahre gehört. Sie beherrscht das Tenorsaxophon spielend leicht und zelebriert das volle Programm: von lauten Shouts über melodische Licks bis hin zu Spaltklängen, die allesamt perfekt eingesetzt werden und so nicht zum Selbstzweck verkommen. Wolfson schafft es scheinbar mühelos, die Energie aufzufangen und weiterzugeben. Das Publikum ist vom ersten Höhepunkt des Tages hörbar begeistert.
Für ein weiteres Highlight sorgt eine andere junge Saxophonistin: Camila Nebbia lässt im Quartett mit Julia Bilat (c), Paul Hession (dr) und Hans Peter Hiby (s) keine Wünsche offen. Mit Letzterem hat sie zudem einen gleichwertigen Partner, der freilich aus einer anderen Tradition und Generation stammt. Der Wuppertaler Hiby trägt seit Jahren das Erbe Peter Brötzmanns weiter und hat es darüber geschafft, als eigenständige Stimme wahrgenommen zu werden. Wenn er gemeinsam mit Nebbia ins Saxophon bläst, wird es magisch. Schnell wird klar: Energie und Präzision schließen sich nicht aus; es gibt keine Alleingänge, stattdessen steht der gleichberechtigte Dialog (auf allen nur denkbaren Ebenen) im Mittelpunkt. Paul Hession liefert an den Drums zudem die perfekte Grundlage, so dass sich schließlich auch Julia Biat am Cello nach anfänglicher Zurückhaltung vom Spektakel inspirieren lässt und die Saiten auf ihre Haltbarkeit überprüft.
Immer noch ein Geheimtipp
Der Auftritt profitiert auch davon, dass er Indoors im Depot stattfindet. Die Energie bleibt so stets gebündelt und erfasst auch das Publikum. Dem Quartett Brique mit Bianca Iannuzzi (voc), Eve Risser (p), Luc Ex (acoustic bass) und Francesco Pastacaldi (dr) hätte man ein ähnliches Ambiente gewünscht. Auf der Open Air-Bühne wirkt der dekonstruierte Soul-Funk doch etwas dünn und verloren. Eine verpasste Chance. Immerhin schafft es Achim Zepezauer aka Ach Kuhzunft mit seinem DJ-Set zum Abschluss, dass die verbliebenen Gäste zur Musik von Ornette Colemans Prime Time wild abtanzen. Auch das muss man erst einmal hinbekommen.
Das Visual Sound Outdoor Festival ist leider immer noch ein Geheimtipp. Mit rund 250 Besucher:innen an drei Tagen lag die Resonanz zwar über der der vergangenen Jahre, ein paar Gäste mehr hätten es aber schon sein dürfen; die umtriebigen Veranstalter:innen hätten es verdient. Wir sehen uns im August 2026.
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