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Diana Matut
Foto (Ausschnitt): Leick/Stadt Essen

„Jüdische Musik in der Region verankern“

26. Juni 2025

Die Leiterin der Alten Synagoge Essen, Diana Matut, zum Festival jüdischer Musik Tikwah – Interview 07/25

Die Philharmonie und die Alte Synagoge in Essen richten das Festival ab September 2025 gemeinsam mit weiteren Kooperationspartnern aus. Der hebräische Titel „Tikwah“ bedeutet übersetzt „Hoffnung“. 

trailer: Frau Matut, was verbinden Sie für Hoffnungen mit dem Festival?

Diana Matut: Dass wir jüdische Musik in der Region verankern und einem breiten Publikum bekannt machen dürfen. Wir wollen darstellen, was jüdische Musik alles sein kann. Aber „Tikwah“ steht in Zeiten der politischen und sozialen Zerrissenheit auch dafür, dass wir uns über Musik begegnen. Wir wollen jüdische Musik als einen ‚dritten Ort‘ erlebbar machen, an dem Menschen mit jüdischer Kultur in Berührung kommen. Konkreter hoffen wir auf Begegnung mit jüdischen Menschen, Musiker:innen, Migrant:innen und ihren Kulturen.

Der Begriff „jüdische Musik“ ist weit gefasst und schwer eingrenzbar. Gemeinhin wird darunter zunächst Klezmer oder Synagogalgesang verstanden. Was umfasst aus Ihrer Sicht jüdische Musik?

Ich danke Ihnen für diese Frage. Wir können hier ein Spektrum öffnen, das von jüdischer Musik des Mittelalters bis ins 21. Jahrhundert reicht. Ein jüdisches Musizieren gab es durch Jahrhunderte auch außerhalb der Synagoge. Jüdische Menschen haben an der Musik der sie umgebenden Kulturen und an deren Entwicklungen teilgenommen. Sie haben Instrumente, musikalische Formensprache und beliebte Melodien mit ihren Mitmenschen geteilt. Das ist sehr gut dokumentiert. Darüber hinaus sind aus der jüdischen Gemeinschaft heraus viele musikalische Formen erwachsen, die sich im musikalischen Gestus unterscheiden. Klezmer ist ein Beispiel.

Andere Beispiele?

Da könnten wir uns die Musik der bucharischen Juden in Zentralasien anschauen. Berühmt ist auch die Musik der Sephardim, also der Juden, die aus Spanien und Portugal bis in den Balkan, nach Nordafrika, Amsterdam, Hamburg und London gezogen sind. Das ist eine überaus reiche Kultur, die mit Ladino eine eigene, im Spanischen wurzelnde Sprache hervorbrachte und damit einhergehend eine vielfältige Musik- und Gesangskultur entwickelt hat. Sie hat an den jeweiligen Orten der Migration die Musik der Umgebung aufgegriffen, angepasst und gewandelt. Für diese sephardischen Gemeinschaften etwa wurde von jüdischen wie christlichen Komponisten eine Vielzahl an Barockkantaten komponiert. Wir haben einen riesigen Fundus solcher Musik in hebräischer Sprache, die aus allen möglichen Anlässen entstanden ist.

Im 18. und 19. Jahrhundert gibt es außerhalb der relativ geschlossenen Gemeinschaften eine jüdisch-musikalische Kultur, die sich stark mit ihrer Umgebung identifiziert und eher mit ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit etwa zum Bürgertum als mit ihrer Herkunft oder Religion zu tun hat.

Es ist eine Fehleinschätzung, jüdische Gemeinschaften und ihre Lebensräume als hermetisch abgeschlossen zu betrachten. Wir denken oft an „Ghettos“ mit Mauern drum herum, die nicht verlassen werden konnten. Aber die gab es nicht einmal vor 500 Jahren in Venedig. Jüdische Menschen haben immer an Gesellschaft und Kultur ihrer Umgebung partizipiert. Wir haben im 18. oder 19. Jahrhundert nicht auf einmal Komponist:innen jüdischer Abstammung, die in Oper und Konzert hineinkommen und dort Furore machen. Das ist ein Mythos, der sich an großen Namen wie Mendelssohn Bartholdy festmacht. Es war seit dem Mittelalter selbstverständlich, zu komponieren oder Musik zu machen im Stil der Umgebungskulturen jüdischer Menschen.Ein berühmtes Beispiel dafür ist Salamone Rossi, ein Zeitgenosse Claudio Monteverdis, der am Hof der Gonzagas in Mantua gearbeitet hat. Dort war auch seine Schwester Europa als Sängerin tätig. Rossi hat hebräische Madrigale im Stil der Zeit für die Synagoge komponiert. Gleichzeitig hat er im selben Stil italienische Madrigale und Instrumentalmusik geschrieben. Europa Rossi hat als jüdische Frau in Monteverdi-Aufführungen gesungen. Beide sind ein Beispiel für Künstler, die als Mitglied der jüdischen Gemeinschaft vollumfänglich in der Musik der Zeit beheimatet sind. Wir sehen solche Beispiele durch die ganze Musikgeschichte hindurch – seit den frühesten Notationen jüdischer Musik aus dem 12. Jahrhundert.

Werden Beispiele solcher historischen jüdischen Musik zu hören sein?

Das Spektrum der Veranstaltungen reicht von Konzerten über Vorträge und Diskussionen bis hin zu Theaterprojekten und Filmen. Das Festival startet an Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest am 23. September. Wir haben zwei Mal das Ensemble Lucidarium zu Gast, das auf jüdische Musik der Renaissance spezialisiert ist. Bei „Moriscos y Marranos“ geht es um die Begegnung muslimischer und jüdischer Gemeinschaften im Exil. Das andere Mal heißt das Programm „Sounds from Shylock’s Venice“. Und dann haben wir das wunderbare Ensemble „Profeti della Quinta“ in der Alten Synagoge. Es besteht vollständig aus Absolventen der Schola Cantorum Basiliensis, und seine Mitglieder sprechen alle Hebräisch. In der Philharmonie hören wir Jordi Savall, der jüdische und christliche Vertonungen der Psalmen Davids präsentieren wird. Das gesamte Programm wird unter www.tikwah-festival.de veröffentlicht.

Wird es so etwas wie jiddische Lieder oder Ähnliches geben?

In der Philharmonie wird es „Yiddish Cabaret“ geben, das diese Dimension aus dem 20. Jahrhundert mit einbringt. Dieses Programm macht uns auch klar, welche große Rolle jüdische Musiker:innen und Entertainer in der „U-Musik“ des frühen 20. Jahrhunderts gespielt haben – eben auch in der Operette, dem Kabarett und dem Revuetheater. Die Vertreibung der jüdischen Menschen hat uns in Deutschland um dieses große Potenzial gebracht – es ist letztlich in Hollywood und am Broadway gelandet.Ein Herzstück unseres Programms sind die „Klezmer.Welten“ im Oktober. Da geht es um das große Kontinuum, in dem die jüdische Klezmer-Musik aus Osteuropa steht. Sie ist beeinflusst von westlicher Musik, aber auch von einem großen Transformationsprozess aus dem Osmanischen Reich. Wir wollen junge Menschen – auch aus migrantischen Communities – zusammenbringen mit jüdischer Musik. Sie sollen erkennen, wie sich etwa Melodien aus dem türkischen, griechischen und Balkanraum in jüdischer Musik wiederfinden lassen – und umgekehrt. Denn viele Lieder „wanderten“ in andere Sprachen und Kulturräume.

Sie bringen mit diesem Festival sehr viele Kooperationspartner zusammen.

Ja, die beiden größten sind die Theater und Philharmonie Essen und die Alte Synagoge. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich kenne kein jüdisches Musikfestival, das sich so breit aufstellt. Mit dabei ist auch die Folkwang Musikschule, die Lichtburg Essen bringt Filme, die jüdische Musik zum Thema haben und im Politischen Forum Ruhr gestalten wir einen Abend, bei dem es auch um den Antisemitismus im gegenwärtigen Kunst- und Kulturbetrieb geht.

Tikwah – Festival jüdischer Musik | 23.9. - 30.5.2026 (soweit bei Redaktionsschluss bekannt) | div. Orte | 0201 812 22 00

Interview: Werner Häußner

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