Anfang 2020 feierte Johan Simons Inszenierung von Tschechows Drama „Iwanow“ mit einem triumphalen Jens Harzer am Schauspiel Bochum Premiere. Die Kritik frohlockte und Simon Strauss schrieb in der FAZ: „Wenn man nur einen Abend hätte, um in diesem Jahr ins Theater zu gehen, dann müsste man nach Bochum fahren!“ Wer hätte damals ahnen können – als Corona noch eine Biermarke oder allenfalls irgendeine fernöstliche Viruserkrankung ganz weit weg war – das es vielleicht wirklich nur eine handvoll Theaterabende geben würde. Eine unvergessliche Aufführung kann das Publikum im März dennoch erleben, wenn die bejubelte Inszenierung von Tschechows erstem Bühnenstück als Livestream zu sehen ist.
Inhaltlich kreisen Titelheld und Stück um den in der Russischen Literatur der Moderne beliebten Topos des „überflüssigen Menschen“. Gemeint ist damit ein zumeist adliger und intellektueller Mann, der an den Unzulänglichkeiten der Gesellschaft zerbricht – aber auch nicht in der Lage oder Willens ist, etwas gegen derlei Unbill zu unternehmen.
Eigene Nutzlosigkeit
Das trifft auch auf jenen Nicolaj Iwanow zu.Seit fünf Jahren ist er mit der aus Liebe zu ihm konvertierten Jüdin Anna Petrowna (Jele Brückner) verheiratet. Aber Anna ist krank und braucht eine Kur, die sich der verschuldete Iwanow nicht leisten kann. Erbaulicher als der Ehefrau beim schwindsüchtigen Dahinsiechen Gesellschaft zu leisten ist es doch, auf einem rauschenden Fest mit der erst 20-Jährigen Sascha (voll quirliger Energie: Gina Haller) zu turteln und zu knutschen. Anna stirbt – aus Verletzung und Untätigkeit durch den Gatten.Als ein Jahr später die die Hochzeit des Witwers mit Sascha ansteht, könnte alles so schön sein. Würde Iwanow nicht an seiner eigenen Nutzlosigkeit zerbrechen und sich auch dieser Situation entziehen, statt sich ihr zu stellen.
Johan Simons, der von 2015-2017 Leiter der Ruhrtriennale war und seit der Spielzeit 2018/19 Intendant am Schauspielhaus Bochumist, wandelt mit „Iwanow“ auf dem schmalen Grad zwischen Komödie und Tragödie, auf schon Tschechow im 19. Jahrhundert balancierte. Mehrfach schrieb dersein Stück von 1887 um und sagte selbst überseine Titelfigur: „Menschen wie Iwanow lösen keine Fragen, sie brechen unter der Last zusammen.“
Bezaubernd und brutal
Jens Harzer, der seit 2019 den Iffland-Ring, eine Auszeichnung für den„bedeutendsten und würdigsten Bühnenkünstler des deutschsprachigen Theaters“ auf Lebenszeitträgt, verkörpert diesen „überflüssigen Menschen“ in all seinen Facetten. In virtuosem Spiel verkörpert er den Antihelden in seinem kompletten Versagen in und Verzagen an der Welt. Darin spiegelt sich auch die Ohnmacht, die wir selbst seit gut zwölf Monaten spüren. Tröstlich daran ist, dass das Leben nun mal Absurdität und Lächerlichkeit birgt. Es ist aber eben auch unwiderstehlich und von mal bezaubernder, mal brutaler Unberechenbarkeit. Wie wir diesen Widrigkeiten letztlich begegnen, haben wir selbst in der Hand.
Tschechow selbst stammte aus prekären Verhältnissen,studierte trotzdem Medizin, arbeitete ehrenamtlich als Arzt und war als Autor unfassbar produktiv. Seine eigene, tödliche Tuberkulose-Krankheit verleugnete er konsequent. „Ich habe schon lange keinen Champagner mehr getrunken“ – das waren Tschechows letzte Worte, nachdem ihm sein Arzt hatte ein Glas bringen lassen. Er trank aus und starb – mit nur 44 Jahren. Man muss die Feste eben feiern, wie sie fallen.
Iwanow | Livestream: Fr 26.03. 19 Uhr | Schauspielhaus Bochum
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