„Simon Boccanegra“ gehört nicht zu den beliebtesten Opern Giuseppe Verdis, dazu fehlen die Mitsing-Melodien. Aber es ist eine der tiefgründigsten Charakterstudien, die er je geschrieben hat. Früher wegen seiner mangelnden Logik verächtlich gemacht, reizt das Libretto Francesco Maria Piaves in der Überarbeitung Arrigo Boitos Regisseure heute, den Verknüpfungen von privatem Schicksal und politischem Wirken in der historischen Handlung um den ersten Dogen von Genua mit geschärftem Bewusstsein nachzugehen. Magdalena Fuchsberger hat das 2018 in Hagen beispielhaft vielschichtig vorgeführt. Jetzt zieht das Aalto-Theater Essen mit der dritten Inszenierung von Tatjana Gürbaca am Haus nach.
Und es ist leider – nach „Lohengrin“ und dem „Freischütz“ – die schwächste der drei geworden: Das liegt vor allem an der unspezifischen Bühne von Klaus Grünberg und den Kostümen von Silke Willrett. Eine graue, halbhohe Gliederwand mit alarmistisch orangefarbenen Türen verändert sich ständig, bildet Säle, Kammern und Winkel, bleibt aber nur Kulisse. Der Versuch, Theaterillusion szenisch aufzubrechen – ein Techniker läuft mit der Nebelmaschine über die Bühne – hinterlässt keinen Eindruck. Und Willretts pastellige Quietschbuntfarben wecken nur die Sehnsucht, etwas anderes als abgeschmackte Bezüge zu amerikanischen Unterschichtlern zu sehen. Denn auf die das Kapitol erstürmende Meute 2021 wird explizit Bezug genommen – und auch das wirkt nur als vordergründige Illustration im Bemühen, für das Stück Gegenwartsrelevanz zu behaupten.
Doch Tatjana Gürbaca zeigt auch, dass sie eine ausgezeichnete Regisseurin ist: Die Schlüsselszenen zwischen Paolo, dem Vergifter der Genueser Politik, und dem gebrochenen Liebhaber und Vater Simon, die anrührenden Momente zwischen Boccanegra und seiner nach 25 Jahren wiedergefundenen Tochter Amelia, das seelenvolle Duett zwischen der verliebten jungen Frau und ihrem Favoriten Gabriele Adorno sind Beispiele einer sensiblen, detaillierten Zeichnung von Personen. In diesen Momenten gewinnt die Aufführung eine fesselnde Dichte, die nur noch der Atmosphäre der Szene bedürfte, um zu überzeugen.
Mit der Atmosphäre hapert es auch in der Musik: Giuseppe Finzi leitet die stimmig und transparent spielenden Essener Philharmoniker nicht zu dem grob-dramatischen Klang an, den man in mittelmäßigen Verdi-Aufführungen zu hören bekommt. Er setzt auf lyrische Finesse, auf luftige Plastizität des Klangs, auf zarte, seelenvolle Kantabilität. Die Sänger dürfen sich bei ihm getragen, nie übertrumpft fühlen. Doch die „tinta“, die düstere Grundstimmung, von der Verdi spricht, bleibt verhalten. Manche Rhythmen pulsieren ohne Spannung, die dynamischen Höhepunkte und Ausbrüche könnten mehr Gewicht vertragen. Dennoch hat Finzis Deutung etwas für sich: Er führt vor, wie sensibel Verdis Musik klingen kann, und er öffnet die Ohren für die harmonischen Feinheiten, die besonders die für die Mailänder Überarbeitung von 1881 geschriebene Musik veredeln.
Vor allem ist die Essener Neuproduktion ein Fest der Sänger: Jessica Muirhead, erst vor wenigen Wochen eine gefeierte „Lucrezia Borgia“, triumphiert als Amelia mit einer wunderbar kontrollierten, einfühlsamen Gestaltung dank einer jederzeit technisch bewusst geführten Stimme. Sie porträtiert eine sich selbst bewusste junge Frau, die sich nicht in einer zugewiesenen Opferrolle verliert, sondern ihre Ohnmacht schmerzhaft erfahren muss. Daniel Luis de Vicente ist ihr als Simon Boccanegra ein ebenbürtiger Partner, der sich im Lauf des Abends nicht auf Lautstärke und großvolumige Töne verlässt, sondern einen farbenreichen Bariton einsetzt, um einen an Intrigen, Täuschungen und Missgunst scheiternden Idealisten zu porträtieren. Wie überhaupt die Männer diesmal stilistisch viel adäquater auftreten als sonst: Almas Svilpa als Fiesco hält seinen Bass im Zaum und findet auch in dramatischen Momenten zu entspannten Tönen, mit denen er etwa das Duett mit Boccanegra im dritten Akt zu einer erschütternden Szene gebrochener Männer ausgestaltet.
Carlos Cardoso hat mit dem Gabriele Adorno eine Rolle seines Lebens gefunden: Er hat den strahlenden Überschwang dieses leichtgläubigen Liebhabers in Flower-Power-Blümchenhose, lässt seinen Tenor strömen, ohne eine Tour de Force abzuliefern und gewinnt auch in lyrischen Momenten wie im Duett mit Amelia, einnehmendes Format. Es lohnt sich also, an der beherrschten Emission der Stimme zu arbeiten. Heiko Trinsinger als Paolo ist die destruktive Kraft im Stück. Seine Rolle wird nicht leichter mit seinem überzeichneten Kostüm mit Riesenblümchen von Sechziger-Jahre-Tapeten, aber stimmlich prunkt er mit der gewohnten Präsenz. Auch Andrei Nicoara als Pietro gefällt mit sorgfältig geformten Tönen. Nicht zu vergessen: Youngjune Lee (Hauptmann der Bogenschützen) mit seinem exzellenten Solo. Der Opernchor unter Klaas-Jan de Groot lässt keine Wünsche offen. Fazit: Am Aalto-Theater wird ein Fest des Gesangs geboten, das auch an großen Häusern nicht häufig geboten wird. So möchte man Verdi hören!
Simon Boccanegra | 17.2., 4., 19.3., 5., 20.4., 6.5., 14.6. | Aalto-Theater, Essen | www.theater-essen.de
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