Der Weg zur Hölle ist 57 Meter lang und führt aufwärts. Eine Abfolge von Räumen, die sich wie Bilder auf einem Filmstreifen aneinanderreihen. Für die Essener Uraufführung der Oper „Dogville“ nach dem Film von Lars von Trier hat sich Bühnenbildner Jo Schramm auf diese Weise vom Film distanziert und gleichzeitig auf seine Bilderfolge bezogen. Ein toller Raumeinfall: Wie die Stationen eines Kreuzwegs reihen sich die Szenen, in denen Grace, die Hauptperson des Stücks, erst subtil, dann brutal ihrer Integrität und Würde beraubt wird.
An den Film sollte seine Oper nicht erinnern, betont Komponist Gordon Kampe. Er hat gemeinsam mit Regisseur David Hermann und Dramaturg Christian Schröder das Libretto aus dem Filmskript erstellt. Drei Stunden Kino verdichtet auf 95 Minuten: Das bedeutet extreme Konzentration und fordert von der Musik Charakterisierungskunst ohne Umschweife. Beides ist gelungen: Kampe lässt das große Orchester mit Schlagwerk und einer kurzen elektronischen Einblendung flirrend eine ausdifferenzierte Atmosphäre schaffen, die prägnant die Psyche der vierzehn Figuren charakterisiert. Diese bilden zu Beginn zu einem lauernden, sich steigernden Sound ein Ensemble; ein Mann mit Bierkiste wiederholt wie einen cantus firmus: einsam, einsam …
Dann folgt eine klassische Opern-Exposition: Eine junge Frau in Weiß ist aus unklaren Gründen auf der Flucht vor einem Gangsterboss und sucht in Dogville Schutz. Bild für Bild werden die Menschen des Ortes vorgestellt, stets in Kontakt mit Grace. Das Libretto schildert in geschickt kondensierten Szenen, wie niemand im Dorf die Hilfsangebote von Grace annimmt, wie nach einem Fest ein Steckbrief die Stimmung kippen lässt, sich die seelischen Abgründe öffnen und Grace zum Opfer kollektiven Sadismus und individueller Gewalt wird. Kampes Musik meidet unmittelbar Illustratives, kreiert aber Atmosphäre, etwa in der Festszene, in der Anklänge an Countrymusik und Fetzen von Folklore durch ein dystopisches musikalisches Chaos geistern.
Gerade die sich steigernde Gewalt hat Kampe beklemmend eingefangen: Exemplarisch dafür sind die beiden Szenen, in denen ein Junge Grace eine raffinierte Falle stellt. Lenn Peris Beier singt dabei ein Kinderlied, das so unheimlich ist wie das „Malo“ in Benjamin Brittens „Turn of the screw“, das die uneingestandene Sehnsucht des Kindes nach Zärtlichkeit ebenso einschließt wie die latente Aggressivität und eine zum Schluss offenliegende Bosheit.
Das Essener Opernensemble leistet in der Regie David Hermanns Großartiges: Die Charaktere sind prägnant herausgearbeitet, unterstützt durch die Kostüme von Tabea Braun. Für Lavinia Dames (Grace) hat Gordon Kampe eine souverän bewältigte, anspruchsvolle Partie geschrieben, die vom Parlando bis zu weiten Puccini-Kantilenen reicht. Glänzend ist auch Rainer Maria Röhr als verzweifelter Vergewaltiger Ben. Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker legen sich mit Verve und Präzision ins Zeug. Die erste Uraufführung des Aalto-Theaters seit 15 Jahren: ein voller Erfolg.
Dogville | 1., 16., 30.4. | Aalto Theater Essen | 0201 81 22 200
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