Lakonisch muss sie sein, die Gegenwartsprosa: nüchterne, knappe Sätze über die Suche nach Glück, Liebe, Freundschaft. Auch gerne: Motive wie Erinnerungen oder Migration. Wahlweise vor einer Kulisse wie der heimatlichen Provinz (vor welcher der Protagonist floh, jetzt aber aus Grund X wieder zurückkehren muss – auch das ein beliebtes, klassisches Motiv). Oder im bewährten, babylonischen Berlin. Das folgt den Lehrplänen der „Creative Writing“-Studiengänge, das liest sich zwischendurch in der U-Bahn und das lässt sich leicht verkaufen.
Genau so einen Roman wollte Senthuran Varatharajah nicht schreiben. Umso sperriger ist der Einstieg in seinen Facebook-Roman „Von der Zunahme der Zeichen“. Einen einfachen Lektüre-Konsum wollte Varatharajah eben vermeiden, wie er an diesem Abend im Literaturhaus Dortmund gestand: „Jeder Leser muss da selbst rein finden.“
Sein Protagonist teilt einiges mit dem Autoren: Beide heißen Senthuran Varatharajah, beide sind Philosophie-Doktoranden in Berlin, beide entflohen dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. Um die bruchstückhaften Erinnerungen an die Flucht, um das Ankommen in Deutschland dreht sich auch der Debüt-Roman von Varatharajah. Durch Zufall entsteht mit einer fiktiven Briefpartnerin ein Dialog auf Facebook. Sie heißt Valmira Surroi, studiert Kunstgeschichte in Marburg und floh vor Jahren mit ihren Eltern aus dem Kosovo nach Deutschland.
Nächtelang korrespondieren beide über ihre Flucht aus den Kriegsgebieten oder ihre Erfahrungen in Asylunterkünften, Erinnerungen und Eindrücke, die auf der anderen Seite Assoziationen und Anekdoten hervorrufen. Zu einer leichten Lektüre lädt Varatharajah damit wahrlich nicht ein. Ein Nachdenken über die Sprache sei dagegen eines seiner Motive, wie er bei seiner Klage über die Gegenwart formuliert: „Heute gibt es einen großen Mangel an Reflexion.“ Die übernimmt der promovierende Philosoph bei dem großen Bogen, zu dem er an diesem Abend ausholt. Da geht es um Präsenz und Abwesenheit, Leere und Nichts.
Facebook erscheint da wie eine metaphysische Zwickmühle, in der die Kommunikation immer schneller, wilder und respektloser ausgetragen wird. Gespräche finden dabei nicht statt, „nur der Traum eines Gesprächs“, meint Varatharajah. Und schiebt noch ein erlesenes Adorno-Zitat hinterher: „Nur in der Ferne gibt es Nähe“.
Um diese geht es auch in der fiktiven Facebook-Korrespondenz, die oft als ein Brief-Roman über die traumatische Flucht und das Fremdsein in Deutschland missverstanden wurde. Manche Passagen legen das durchaus nahe, etwa die Erinnerungen an die Zeit im Kindergarten. Da erzählt der fiktive Briefeschreiber, wie sie auf Papier einen Menschen mit dunkler Haut malen. Bis ihnen die Erzieher den Stift aus der Hand nahmen, wie es im Roman heißt: „und sie nahmen einen hellrosanen aus der buntstiftdose vor uns und legten ihn zwischen unsere Finger, und ihre hände schlossen sich um sie und sie sagten, diese farbe nenne man Hautfarbe, sie wiederholten es, diese Farbe nennen wir hier Hautfarbe, und wir sprachen es ihnen nach." Varatharajah geht es dabei um die Zeichen, wie in diesem Fall die Buntstifte, die benutzt, aber nicht hinterfragt werden. Alltagsrassismus spielt da durchaus eine Rolle. Genauso wie die Fluchterfahrung, jedoch als Folie.
Denn die Motive von Flucht oder Migration ziehen sich durch die Gegenwartsliteratur bereits eit einigen Jahren. „Das hat natürlich das journalistische Interesse auf diese Bücher gelenkt“, so der Schriftsteller. Eben diesem Trend widersetzt sich Varatharajah mit seinem Debüt-Roman, eine mutige philosophische Reflexion über die ganz großen Fragen. Und dass auf Facebook.
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