Normalität? Was ist schon Normalität in diesen Zeiten. Vor der vierten Welle. Vor der neuesten Mutation. Vor der neuen Spielzeit im Schauspielhaus Bochum, wo die Aerosole durch das Große Haus flüchten und Stuhlreihen der Kammerspiele wieder in den Winterschlaf müssen. Das soll das neue Leben sein? Die erste Premiere hat ein Stück mit gleichem Namen frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears. Das nenne ich mal eine virusfreie Kausalität.
Im Stück sollen wir uns vorstellen, wir seien neun Jahre alt und träfen die Liebe unseres Lebens. Nur flüchtig, doch beindruckt. Mit 18 sehen wir sie noch einmal, nur von ferne. Kein Kontakt, nix und doch werden wir unser ganzes Leben dieser Liebe widmen. Ist klar, denn jetzt geht es uns wie Dante Alighieri, der seine unerreichte Liebe Beatrice früh durch die Pest verliert und immer noch auf einem Stapel Liebeslyrik sitzt. Nur in einem fiktiven Paradies in seiner „Göttlichen Komödie“ trifft er die Angebetete wieder und spricht endlich mit ihr. Zweite Chance nur als literarische Fiktion? Heute in der virtuellen Welt via VR-Brille? Nö. Bei Regisseur Christopher Rüping können sich in „Das neue Leben“, seiner ersten Arbeit am Schauspielhaus, die Spielenden und das Publikum frei begegnen. Zusammen wird, auch nach dieser langen Zeit verhinderter zwischenmenschlicher Begegnungen, jetzt dieses neue Leben gesucht (ab 10.9.).
Aber das alte ist noch nicht vergessen. In den Kammerspielen erzählen im internationalen Dauerbrenner „All the Sex I’ve Ever Had“sechs Menschen ab 65 aus Bochum und Umgebung ihre Geschichten: von der ersten Verliebtheit über den ersten Herzschmerz, (un)geplante Schwangerschaften, aufregende Affären, sexuelle Reorientierungen bis hin zum Tod von Geliebten. Die mit der Gnade der späten Geburt Gesegneten, die dafür ohne Aufklärung oder Pille groß wurden, und das zu einer Zeit der Tabus und der sexuellen Revolution gleichermaßen, als Homosexualität noch Verbrechen und Aids kein Thema war, entwerfen mit ihren Geschichten auch ein Gesellschaftspanorama ihrer Zeit. Dieser von Jana Eiting inszenierte und mit Freude und Tragik gefüllte Abend zeigt, was Senioren weitergeben können und dass Altern einen Weg aufzeigt, offen und furchtlos durch diese Welt zu gehen, obwohl - das Böse ist immer und überall (ab 18.9.).
Denn Intendant Johan Simons startet in die Spielzeit mit dem norwegischen Schriftsteller Knut Hamsun und dessen Roman „Mysterien“ von 1892 (ab 17.9.). Der gilt zwar als einer der wesentlichen Protagonisten der literarischen Moderne und wird deshalb von Kafka, Miller und Joyce bewundert, zum anderen ist er zeitlebens bekennender Nationalsozialist geblieben, der Goebbels seine Nobelpreismedaille vermachte und Hitler 1945 einen berüchtigten Nachruf schrieb. Der Roman erzählt die Geschichte eines mysteriösen Fremden mit mysteriösem Eisenring am Finger, der eine norwegische Hafenstadt ziemlich gewalttätig aufmischt. Niemand weiß, woran man bei ihm ist, bis er schließlich ins Meer springt, seinem weggeworfenen Wunder-Ring hinterher. Mit diesen drei Produktionen wird das ein ziemlich ungewöhnlicher Herbst auf den Brettern der internationalen Bochumer Vorzeigebühne.
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