Odysseus und Orestes treten einfach nicht ab. Die mythologischen Figuren gehören zum Inventar der Gegenwartsbühnen. Angesichts der Gewaltspiralen, Kriegskonflikte und Fluchttragödien überrascht es allerdings nicht, dass die antiken Helden sich in den Katastrophen des 21. Jahrhunderts verzetteln sollen. So griff Milo Rau jüngst Aischylos „Orestie“ auf, um es auf die Stunde Null in Syrien zu projizieren und zu fragen, wie nach fast zehnjähriger Barbarei wieder Gerechtigkeit statt Rache herrschen kann.
Christiane Jatahy widmete sich für die Ruhrtriennale dem wohl bekanntesten antiken Stoff: Homers „Odyssee“. Ihre Bearbeitung trägt den umständlichen Titel: „The Lingering Now o agora que demora our Odyssey II“. Angekündigt wurde die Aufführung als zweiter Teil des Diptychons „Unsere Odyssee“. Brennpunkt sind die Irrfahrten, für die Odysseus sinnbildlich steht – in einer abendländischen Kultur, die vor diesen irrlichternden Tragödien am liebsten die Mauern hochziehen lassen will.
Solche Mauern will Christiane Jatahy an diesem rund zweistündigen Abend einreißen . Zumindest im Kopf. Dafür lässt sie Film und Theater, Fiktion und Realität in einen Dialog treten. Bis sich eine Art gemeinsamer Raum eröffnen soll, in dem die Geflüchteten nicht mehr in einem unüberbrückbaren Abstand zu uns sprechen.
Doch zunächst sprechen sie auf der Leinwand, die auf der Bühne der Duisburger Gebläsehalle steht. Geflüchtete SchauspielerInnen aus Syrien treffen etwa im Libanon auf BerufskollegInnen aus Palästina. Sie alle können sich als Odysseus vorstellen und den antiken Text erzählen. Schließlich teilen sie das Schicksal der Irrfahrt, die Sehnsucht, wieder nach Hause zurückkehren zu wollen.
Immer wieder blicken die DarstellerInnen lange in die Kamera. Es ist ein Schuss-Gegenschuss-Prinzip, in dem Film und Kino, KünstlerInnen und Publikum partizipativ Ping-Pong spielen sollen. Unter den Sitzreihen haben sich die Bühnenakteure gemischt, die nun animieren, mitzutanzen: Jetzt bitte alle die Hüften schwingen lassen, auf der Leinwand und im Saal. Der Abend gerät mehr zur Geste, Teilnahmslosigkeit ausgeschlossen. Doch nur ein kleiner Teil erhebt sich von den Sitzen, manche fühlen sich sogar vom Scheinwerferlicht geblendet.
Die Darstellerin Yara Ktaishe erzählt an einer Stelle ihre persönliche Geschichte. Schließlich bittet sie die Regie, die deutschen Untertitel auszublenden. Und fragt ins Publikum, ob irgendwer weiter übersetzen kann, Englisch-Deutsch. Tatsächlich meldet sich eine Dame im Publikum dazu. Fiktion dringt in die Realität ein, um Mauern einzureißen, um Solidarität anzustoßen. In diesem Fall geht es auf. An anderer Stelle stellt Christiane Jatahy ihre eigene Biographie auf der Bühne vor. Um anschließend auf der Leinwand an den Amazonas zu entführen. Die brasilianische Regisseurin spricht dort mit indigenen Einwohnern, die durch Bolsonaros Politik gefährdet sind. Für Jatahy markiert das auch eine Art Rückkehr zu den Wurzeln ihres Großvaters, wie sie sagt. Bevor sie das Publikum mitsummen lässt, um den Flussstrom nachzuahmen. Doch da steht längst wieder die Mauer.
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