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Is' doch alles Banane: Hagen Rether wundert sich.
Fotos: Dominik Lenze

Kabarett als autogenes Training

12. Januar 2016

Kabarettist Hagen Rether in der Philharmonie Essen am 10.1.

Kabarett ist bisweilen eine recht religiöse Angelegenheit: Der über Politik und Zeitgeschehen empörte Zuschauer reicht die Schuldfrage an den Kabarettisten weiter, der deutet mit erhobenem Zeigefinger auf „die da oben“.

Und das Publikum – nun erlöst von seinen Sünden – kann endlich befreit lachen. Das ist eine angenehme und bei gutem Kabarett auch sinnvolle Angelegenheit. Aber es geht eben auch anders: Für den Essener Hagen Rether ist der Kauf der Eintrittskarte kein Ablasshandel, nicht „denen da oben“ will er den Spiegel vorhalten, sondern uns, seinem Publikum. Zum Beispiel am vergangenen Sonntag den 10.1., im ausverkauften Alfred-Krupp-Saal der Philharmonie Essen.

Eine Frage zog sich dabei wie ein roter Faden durch den fast vierstündigen Auftritt: „Warum tun wir das?“ Arbeit bis zum Burn-Out, Schulzeitverkürzung trotz gestiegener Lebenserwartung, dreimal jährlich ins Flugzeug steigen, gleichzeitig den Klimawandel beklagen –  „Warum tun wir das? Versteh' ich nicht“, sagt er immer wieder, dann widmet er sich der Politur seines Pianos, isst ein paar Happen Sushi oder spielt ein Lied. Rether macht Kabarett mir ruhiger Hand: unaufgeregt, mit kühlem Kopf und scharfem Blick für all die Widersprüche, Sublimierungen und falschen Glaubenssätze, die in der Hektik eines Tages im 21. Jahrhundert meist nicht auffallen.

Rether spielt auf seinem frisch polierten Klavier

Tage wie diese, in denen nach massiven Sexualdelikten im öffentlichen Raum laut über eine Verschärfung des Asylrechts nachgedacht wird – als wäre Sexismus ein importiertes Problem und dem Bio-Deutschen per sé fremd. Den inzwischen im Mainstream angekommene Glaubenssatz „Immer sind es die Ausländer“ dreht Rether um: „Immer kriegen es die Frauen ab“, murmelt er nachdenklich, während er Klavier spielt – und jeder im Saal weiß, worum es geht, obgleich dieser Satz bislang nur als leiser Zwischenruf im lauten Gebell von Rechts zu vernehmen war.

Vom Kölner Hauptbahnhof in jener schrecklichen Sylvesternacht spaziert er ruhigen Schrittes zu den nächsten Themen: „Die zünden echt Häuser an, permanent“, sagt er. Dabei bringe Alkohol doch immer noch mehr Menschen um als kriminelle Einwanderer, was zu der Frage führt, warum eigentlich kein „besorgter Bürger“ eine Winzerei in Brand setzt. Der rhetorische Flaneur schlendert weiter, zu alten Freunden, die mit ihm Orwell und Huxley lasen, heute aber der Meinung sind, sich gleich über zwei Smartphones in der Tasche orten zu lassen. Zu Eltern, die in Sorge sind über Sex und Gewalt, ihrem Sohnemann aber die 3D-Brille gerade rücken, damit er in der Hobbit-Trilogie „blonde Herrenmenschen“ beim Genozid an den Orks beobachten kann –  „Hauptsache er sieht keine Brüste, da wäre er ja traumatisiert.“

Kabarettistische Entspannungsübungen: Rether lässt sich nicht aus der Ruhe bringen

Schleichend kommt Rether von „Warum machen wir das?“ zur nächsten Frage: „Wollen wir das nicht mal anders haben?“ Schwierig in einer Welt, die ihre Kinder mit Helden wie dem gezeichneten Hooligan Obelix, dem tatsächlichen Schlächter Kolumbus und James Bond, dem pädagogischen Flügel der NATO, großzieht. Oder, klassisch doch immer noch befremdlich: Kaiser Wilhelm, an den auch in Essen eine Statue erinnert. „Dieser riesige Bronze-Soziopath“, sagt Rether, sprüht wieder etwas Reinigungsspray auf seinen Flügel und poliert. Denn obgleich jede Minute dieses Abends tiefer in die Wirrnisse unserer Welt führt, lässt sich Rether nicht die Ruhe nehmen. Für eine überspannte, hysterische Gesellschaft ist ein Kabarettabend beim Essener autogenes Training. Vielleicht auch etwas Psychoanalyse, sicher etwas Wittgenstein'sche Sprachtherapie, die unsere Sprache von unsinnigen Sätzen reinigt. Aber auf keinen Fall Ablasshandel – da traut der Künstler seinem Publikum etwas mehr zu.  

Text/Fotos: Dominik Lenze

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