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Museum aus Glas

25. Oktober 2018

„Keine Retrospektive“ von Jochen Gerz in Duisburg – kunst & gut 11/18

Zu sehen ist Text. In roten Druckbuchstaben auf drei Seiten der Glasfassade in vielen Zeilen, die sich zu Blöcken zusammenschließen. Einzelne Begriffe sind mit der roten Farbe unterlegt, also in dieser ausgespart. Zu lesen ist die Schrift von draußen, am besten auf Augenhöhe im Laufen auf dem hierzu errichteten Baugerüst, das seinerseits das Gebäude zu verbarrikadieren scheint. Es geht um das Lehmbruck Museum in Duisburg, und der Künstler, der hier interveniert hat, ist Jochen Gerz. Ob die Umstände, dass die Schrift im Museum spiegelverkehrt zu sehen ist und das Baugerüst diesem einen provisorischen Charakter verleiht, Hinweise darauf sind, dass Gerz der Institution Museum grundsätzlich mit Skepsis gegenübersteht? Dass er diese in der Verantwortung sieht, sich nach draußen zu öffnen und in gesellschaftliche Fragen einzumischen? Dass sein wichtigster Adressat doch der Passant ist, der vielleicht nichts mit Kunst anfangen kann, aber die im Sonnenlicht leuchtende Schrift aus der Ferne sieht und neugierig zu lesen anfängt?

Tatsächlich hat Jochen Gerz, der so freundliche und beharrliche Künstler, schon vor eineinhalb Jahrzehnten seine Aktivitäten von drinnen ganz nach draußen, in den öffentlichen Raum verlagert – was sich eigentlich sehr früh schon abgezeichnet hat. Gerz wurde 1940 in Berlin geboren. Er wächst im Rheinland auf, studiert Sinologie, Germanistik und Anglistik in Köln: Sprache und Schrift werden zu den „Werkzeugen“ des jungen Künstlers, der mit konkreter Poesie beginnt, zunehmend aber Skulptur, Performance und Video hinzuzieht, mit einem hohen Anteil an konzeptueller Durchdringung. Ab 1966 in Paris lebend (und mittlerweile in Irland ansässig), wird er berühmt mit seiner monumentalen, zwei Räume sozusagen durchdringenden Holzskulptur „Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen“, die 1976 im Deutschen Pavillon der Biennale Venedig ausgestellt wird und in deren Hohlraum er sich eine Zeitlang aufhält. 1972 und 1987 wird er zur documenta eingeladen und stellt in diesen Jahrzehnten in den wichtigen deutschen und internationalen Museen aus, 1975 übrigens auch im Lehmbruck Museum. Er berichtet, dass ihn schon davor die Glasfassade fasziniert habe: Glas für Kunst in einer Stadt, in der im Weltkrieg die Häuser aus Stein zerbombt wurden …

Söke Dinkla
Foto: Ralf Schultheiß
Die Kuratorin

Dr. Söke Dinkla, geboren 1962, ist Direktorin und Kuratorin am Wilhelm Lehmbruck Museum und wirkt in nationalen und internationalen Jurys und Expertenkommissionen mit. Sie studierte Kunstgeschichte in Hamburg und promovierte 1996 bei Horst Bredekamp mit einer Dissertation über interaktive digitale Kunst, die heute als Standardwerk gilt.

Der visuell erfahrbare Text aber bleibt bis heute das Medium, mit dem Gerz gesellschaftliche Zustände, Erfahrungen aus der Geschichte und Erwartungen für die Zukunft befragt. Mit dem er Stellung bezieht. Berühmt ist sein „Mahnmal gegen Faschismus“ in Hamburg-Harburg. 1986 errichtete er dort gemeinsam mit seiner Frau Esther Shalev eine 12 m hohe, mit Blei bedeckte Säule und lud die Bevölkerung ein, auf dieser gegen Faschismus zu unterschreiben. Mit der Zunahme an Unterschriften versenkte er die Säule nach und nach im Boden, bis sie 1993 ganz verschwunden und mit einer Bodenplatte bedeckt war. Dieses Diskrete bis zum Unsichtbaren ist ein weiterer roter Faden im Werk von Jochen Gerz – so wie er sich selbst im hölzernen Pferd verborgen hat oder fast drei Wochen mit der transsibirischen Eisenbahn in einem verschlossenen Zugabteil mit heruntergelassenen Jalousien gefahren ist. Und das gilt auch für seine jüngeren kollektiv realisierten Beiträge für den Stadtraum, bei denen er von bestimmten Bevölkerungsgruppen Statements erbittet, die etwa als Buch oder auf Schrifttafeln veröffentlicht werden und die eben die Abkehr von Jochen Gerz vom klassischen Ausstellen und vom Museum hin zur „partizipatorischen Autorenschaft“ bedeuten, wie er dazu sagt.

Im Grunde greift Gerz das nun auch in Duisburg an der Fassade des Lehmbruck Museums auf. Es gibt eben keine Retrospektive zu sehen, zu der er ursprünglich eingeladen worden war. Aber Gerz problematisiert die Idee der Werkübersicht, indem er ihre Absage in den Ausstellungstitel aufnimmt und indem der Text an der Fassade eine Auflistung seiner eigenen Biografie in chronologischer Abfolge umfasst. Gerz ordnet sie in die Zeitgeschichte ein. Er lässt die Lebenserfahrungen und künstlerischen Prägungen im Fluss der kollektiven Ereignisse aufgehen, die zu Bezugspunkten werden. Und dabei schafft er über die Erzählung hinaus am Lehmbruck Museum wunderbare, in Form übersetzte Kunst, bei der man tatsächlich stehen bleibt und staunt. Der Betrachter wird zum Eingeweihten, der im Betreten des Laufstegs und im Lesen für sich das Kunstwerk vollendet.

Aber so intensiv und aufregend schon die Textfassade mit dem Gerüst ist, zur Ausstellung gehören weitere Elemente, die zwischen Öffentlichkeit und Museum vermitteln. Da ist die Broschüre, die die geschichtlichen Hintergründe des Textes weiter erläutert und der Gesamtauflage der „Rheinischen Post“ als kollektivem Multiplikator beilag. Und die Führungen zum Werk von Jochen Gerz werden von (dafür ausgebildeten) Personen vorgenommen, die vor dem Krieg nach Deutschland geflohen sind. Weiterhin gibt es ein ausführliches Begleitprogramm, bei dem Gerz selbst mitwirkt: Kunst ist für ihn Kommentar und Reflexion der drängenden gesellschaftlichen Fragen. Man kann sich nicht raushalten.

Jochen Gerz: The Walk – Keine Retrospektive | bis 5.5.19 | Lehmbruck Museum Duisburg | 0203 283 26 30

Thomas Hirsch

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