Kammerspiele Bochum. Roter Vorhang. Davor: Aufzug der Protagonisten für „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter der Anleitung des Herrn de Sade“ von Peter Weiss, Uraufführung 1964. Es zischelt hinter dem Vorhang. Nebel? Einzeln kommen die Spieler auf die Bühne. Die meisten mit Handicap, aber zielorientiert und ernst, nur der junge Mann, der ein Chromosom mehr hat als die anderen, freut sich bereits sichtlich auf die Aufführung. Dann kommt vor ihnen der Eiserne runter, nur ein Blumenstrauß steht noch davor und – nachdem er wieder oben ist schaut ein sichtlich verwirrtes Publikum auf die nebelige Bühne, wo die barbusige Performerin Sahar Rahimi im Stile einer Jungfrau von Orléans die Trikolore schwenkt. Sie ist Teil des Regieteams von Monster Truck, eines Kollektivs, das an den Schnittstellen von Darstellender und Bildender Kunst arbeitet und zum ersten Mal mit einem Stadttheater kooperiert.
Die leere Bühne mit weißen Kisten vor einem weißen Podest und wenigen Requisiten die das Hospiz zu Charenton, wo neben psychisch Kranken und geistig oder körperlich behinderten Menschen auch Homosexuelle inhaftiert waren, die vom Direktor Monsieur Coulmier die Erlaubnis hatten nach eigenen Vorstellungen Theater für die Bürger zu spielen. Diesen Umstand verarbeitet die Gruppe Monster Truck mit einer Gruppe Bochumer Menschen mit geistigen Behinderungen und/oder psychischen Krankheiten (wie spastische Bewegungsstörung, Autismus, Down Syndrom, Angst- und Zwangsvorstellungen) in Peter Weiss‘ „Marat / Sade“. Jedes Ensemblemitglied wird dabei einmal mit seiner Biografie und Einschränkung übertitelt. Was den Abend so besonders macht: Hier spielen behinderte Schauspieler auch behinderte Schauspieler, ein Zustand, für den nicht-behinderte Schauspieler ins „Cripping-Up“ gehen müssen. Dies ist ein Pedant zum sogenannten „Blackfacing“, einer rassistischen Unterhaltungsmaskerade, die (wo sonst?) in den US-amerikanischen Minstrel Shows im 19. Jahrhundert ihren Anfang hatte und bis heute auch an deutschen Theatern zu Repräsentationsdebatten führt.
Monster Truck inszenieren den zweigeteilten Theaterabend, an dem der Zuschauer oft – zwischen Voyeurismus und Abwehrhaltung – nicht weiß, wie er sich verhalten soll, durch die gegensätzlichen Standpunkte der beiden Hauptfiguren Marat und Sade, bei denen radikale Gleichstellung des Einzelnen auf grenzenlosen Individualismus prallt. Die Spieler der Anstalt stecken dabei in den Kisten auf der Bühne, springen, wenn ihre Figuren auftreten, wie Jack in the box oben heraus. Sprechen tun sie nicht, das besorgen die Tänzerin Dasniya Sommer und Ensemblemitglied Lukas von der Lühe. Den Kopf der Protagonisten in beiden Händen, bewegen sie die Kiefer und sprechen elektronisch verändert den Text. Das assoziiert auch das minimalistisch Puppenhafte des ersten Teils, der mit der Ermordung Marats in der Badewanne durch Charlotte Corday endet und eine verstörende Ahnung der Grenzenlosigkeit von Fremdbestimmung hinterlässt. Im zweiten Teil geht dann die Post ab. Die Revolution gleitet ins monströse Chaos, alle Zwänge sind aufgelöst, nur die Drag Queen Renate Stahl versucht verzweifelt Ordnung in die Revolutionsfeiern im Flamingo-Becken zu bringen, muss aufgeben und verschwindet in einem riesigen aufgeblasenem Krokodil, aus dem Schaum quillt. Doch ein neuer Despot erscheint schon am Beckenrand.
„Marat / Sade“ | R: Monster Truck | Kammerspiele Bochum | ab Juni 2020 zeigt Monster Truck „Das Narrenschiff“
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