Wie sehr fesselt die Moderne in der Skulptur den heutigen Ausstellungsbesucher? Wie nahe gehen uns die plastischen Werke in Bronze, Gips oder Stein, die vor mehr als einem Jahrhundert entstanden sind und nichts anderes als das Abbild des Menschen zeigen? Das Lehmbruck Museum belegt nun mit einer Auswahl an Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck und Auguste Rodin, wie lebensnah die Werke nach wie vor sind. Dabei bringt das Duisburger Haus seine ganze Kompetenz ein: Als Spezialmuseum für Skulptur besitzt es selbst eine Vielzahl an Werken dieser Zeit. Und es beherbergt einen Großteil des Werkes von Wilhelm Lehmbruck.
Lehmbruck und Rodin – das ist Weltklasse. Der wichtigste deutsche Bildhauer des frühen 20. Jahrhunderts trifft in seinen Werken auf den bedeutendsten Bildhauer jener Zeit in Frankreich, flankiert von Zeitgenossen wie Archipenko, Brancusi oder Camille Claudel. Einziges Sujet der Ausstellung ist der Mensch, und schon anhand der beiden Künstler, die jeder auf seine Weise „nach der Natur“ arbeiteten, wird deutlich, wie weit das Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten ist und wie sehr Emotionalität, Spiritualität oder Innigkeit als plastische Kunst vermittelt werden kann.
Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) wurde in Meiderich geboren und hat sein künstlerisches Selbstverständnis im Rheinland ausgebildet. Von 1910 bis 1914 hielt er sich in Paris auf, wo er auch Rodin kennenlernte. Lehmbruck ist dem Expressionismus in der Skulptur zuzurechnen, nach dem Ersten Weltkrieg konzentriert er die Darstellung des Menschen auf Trauer und Verzweiflung: Die Körperglieder sind langgestreckt, bei gleichzeitiger Introvertiertheit im Ausdruck. Wo er ein Innehalten und eine gewisse Kargheit aufweist, zeigt Auguste Rodin hingegen Volumen und Energie. An der Patina seiner Bronzen reflektiert das Licht und vitalisiert die Oberfläche weiter, verleiht ihr Sinnlichkeit und ein Gefühl für Tatkraft. Nachdem er in Paris anfänglich missachtet wurde, erhielt Rodin (1840-1917) mit seiner Teilnahme an der Weltausstellung 1889 höchste Anerkennung und war fortan einer der Protagonisten der künstlerischen Avantgarde.
Tagesaktuelles Geschehen fließt nur indirekt in die Skulpturen beider Künstler ein. Sie formulieren vielmehr allgemeine Aussagen zur Befindlichkeit und zur Existenz des Menschen, mittels der Formlösung. Über die Form nähert sich die Duisburger Ausstellung dem Wesen der Werke und befragt sie anhand des Begriffs der zeitlosen Schönheit. Daraus leiten die Kuratoren mehrere Themen, aber auch Gegenüberstellungen ab und widmen sich zudem einzelnen Werken und ihrer Geschichte.
Gezeigt wird der menschliche Körper als Ganzfigur oder Torso bis hin zum Fragment. Die meisten Skulpturen sind zu umqueren. Jede neue Perspektive offenbart eine andere Ansicht. Das geht in Duisburg so weit, dass hinter Lehmbrucks „Großer Sinnender“ ein Spiegel steht, sodass Vorder- und Rückseite gleichzeitig zu sehen sind. Die wenigen in die Ausstellung integrierten Skulpturen heutiger Künstler halten sich allzu dezent zurück – aber das macht nichts: Selten vermittelten die Meisterwerke der modernen Skulptur eine solch differenzierte Schönheit.
Schönheit. Lehmbruck & Rodin – Meister der Moderne | bis 18.8. | Lehmbruck Museum in Duisburg | 0203 283 26 30
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Bewegung und Berührung
Eva Aeppli und Jean Tinguely in Duisburg – Ruhrkunst 05/25
Alleine und zusammen
Eva Aeppli und Jean Tinguely im Duisburger Lehmbruck Museum
Ein Bildhauer in seiner Stadt
Hans-Jürgen Vorsatz im Duisburger Lehmbruck Museum
Blick Zurück nach vorn
Miquel Navarro im Duisburger Lehmbruck Museum
Im Einklang mit der Natur
„Henry Moore – For Duisburg“ im Duisburger Lehmbruck Museum – kunst & gut 12/24
Der Kern der Dinge
Zwischen Konzept und Skulptur: Alicja Kwade im Lehmbruck Museum in Duisburg – kunst & gut 12/23
Auf Zeitreise
„Ein Blick zurück“ im Lehmbruck Museum in Duisburg – Ruhrkunst 09/23
Abstraktion als Sprache der Gegenwart
Nicht Einzel- sondern Kontextausstellung: Barbara Hepworth in Duisburg – kunst & gut 05/23
Brechung und Abstraktion
„Die Befreiung der Form“ in Duisburg – Kunst 03/23
Brieftauben und Vogelperspektiven
Norbert Kricke in Duisburg – kunst & gut 01/23
Der Raum, den die Skulpturen fühlen
Antony Gormley im Lehmbruck Museum Duisburg – kunst & gut 11/22
Großes Kino
Ausgezeichnet: Cardiff & Miller im Lehmbruck Museum Duisburg
– kunst & gut 05/22
„Auch mal am Tresen entstanden“
Leiterin Christine Vogt über die Ausstellung zu Udo Lindenberg in der Ludwiggalerie Oberhausen – Sammlung 07/25
Realismus des Alltags
Paula Rego im Museum Folkwang in Essen – kunst & gut 07/25
Nachtspaziergang im Keller
„Light-Land-Scapes“ in Unna – Ruhrkunst 07/25
Viel zu tun
RUB-Sammlungen im MuT Bochum – Ruhrkunst 07/25
„Der Beton ist natürlich sehr dominant“
Die Kurator:innen Gertrud Peters und Johannes Raumann zu „Human Work“ in Düsseldorf – Sammlung 07/25
Die „Zweite Schuld“ der Justiz
Ausstellung zur NS-Vergangenheit des Bundesjustizministerium im Bochumer Fritz-Bauer-Forum – Ausstellung 06/25
In der Kunstküche
„Am Tisch“ und Medienkunst im Dortmunder U – Ruhrkunst 06/25
Women first!
Judy Chicago in Recklinghausen – Ruhrkunst 06/25
Gegen den Strom
Dieter Krieg im Museum Küppersmühle – kunst & gut 06/25
„Moderne Technologien werden immer relevanter“
Die Leiterin der Kunstvermittlung des ZfIL Unna, Christiane Hahn, über die neue Jahresausstellung – Sammlung 06/25
Geschichten einer Leidenschaft
Oskar Kokoschka mit den Porträts von Alma Mahler in Essen – kunst & gut 05/25
Einflüsse verschmelzen
Nadira Husain im Kunstmuseum Gelsenkirchen – Ruhrkunst 05/25