Auch in einer nur gedachten zukünftigen Heimat 4.0 geht es immer noch um das Fremdsein. Was da alles fremd sein kann, warum wir das Unbekannte fürchten und wer überhaupt die Parameter festlegt, nach denen diese schwammige Klassifizierung durchgeführt wird, das alles steckt in dem Abend „Fremd... das sind die Anderen“, den die Mülheimer VolXbühne am Theater an der Ruhr mit Regisseur Jörg Fürst und SchülerInnen und LehrerInnen der Rembergschule, einer Förderschule für geistige Entwicklung erarbeitet hat. Im kleinen Theaterstudio an der Adolfstraße ist es wuselig, Schüler fegen um die Sitze, stibitzen hier ein Gummibären-Tütchen, dort eins mit sauren Drops, begehrt sind auch die kleinen Schokofußbälle, das Drama in Russland ist ja längst passiert und die Sonne scheint. Also alles toll bevor die zehn handlungs- und sprachbehinderten Jugendlichen und sechs Mitglieder der VolXbühne (60+) auf die Bühne müssen. Dort sitzt schon der versierte Theatermusiker und Schlagzeuger Peter Eisold an seinen Drums und etlichen, auch perkussiven Musikinstrumenten. Er wird das Stück mit Klang strukturieren, den Takt vorgeben und die Choreografie am Laufen halten.
Dunkel ist es zu Beginn, düster – auch das für Menschen, die täglich in Kunstlicht baden, längst fremd geworden – drei bunte Ölfässer, ein blinder Mann wird von einem Jungen über die leere Bühne (Jana Denhoven) geführt. Seriell die ersten Texte über die Gebärdensprache und die Dualität von anders und fremd, ein geschickter Regietrick, auch um die Konzentration zu steigern. Denn Jörg Fürst hat eine schnelle Szenenfolge inszeniert, die einfach, aber klar die unterschiedlichen Situationen erklärt, wenn und wann aus Fremdheit Angst entsteht. Die kleinen Mimen, die in wenigen, aber prägnanten Sätzen ihre Furcht beschreiben, die sogar nur ein fremder Spielplatz, eine fremde Umgebung oder selbst die eigene Muttersprache auslösen kann. Dass eine Behinderung einen anderen Jungen zwingt mit seinem Fahrrad auf dem Bürgersteig zu fahren und er deshalb die Anfeindungen der Fußgänger ertragen muss, dass es nicht einfach ist in einer Welt voller Geräusche und man manchmal mit Kopfhörern auf besser hört, alles das sind Ängste im Tagtäglichen, die an uns vorbeiziehen wie Geschichten aus einer anderen Welt und die wir oftmals nicht einmal wahrnehmen.
Um die kleinen Darsteller zu schützen und ihnen einen handfesten Schutzraum zu bieten, tragen die manchmal mächtige Masken etwa von Löwe, Pferd und Gorilla (Monika Odenthal) und selbst hier musste der eine oder andere seine Furcht erst verlieren, erzählt der Regisseur nach der Premiere. Allen, ein kleiner „Springinsfeld“ mit Chromosomen-Anomalie, ist das wunderbare anarchische Moment in der Inszenierung. Er macht alles richtig und er macht es lachend gleich mehrfach, wechselt abrupt die Positionen, spricht mit seiner Schwester im Publikum. Grandios. Anders? Klar ist er anders, aber wer ist das nicht. Gleich ist im Publikum und auf der Bühne niemand. Gleichheit ist auch kein gesellschaftliches Ziel, selbst wenn die Angst vor Ausgrenzung manchmal übermächtig scheint. Den größten Halt geben die sechs VolXbühnen-Mitglieder, die selbst etwas zu sagen haben und manchmal dialogisch und szenisch mit den Schülern verbunden sind. Zeitgenössisch interessant ist besonders die Geschichte der beiden 80-Jährigen die sich seit 75 Jahren kennen. Adelheid Borgmann und Ursula Roth stammen aus Westpreußen und wurden wegen ihres Akzents gehänselt, als sie nach Mülheim kamen. Sie haben ihn sich mühsam abtrainiert, auch um den Anfeindungen zu entgehen. Sie mussten natürlich nicht auf die halben Ölfässer steigen, sie durften dafür aber auch nicht die Seifenblasenpistole benutzen, die einen schönen magischen Moment in den Ablauf pustete. „Die will ich auch haben“, tönt es hinter mir. Klar, das kann ich nachvollziehen und auch das ist ein weiteres Zeichen, wie emotional die kleinen Zuschauer bei der Sache sind. Gut, dass bereits ein drittes Projekt mit der Rembergschule vereinbart ist.
Das Generationen umfassende Ensemble der VolXbühne kennt sich mit diesen Stückentwicklungen ja bestens aus, obwohl sie in der Vergangenheit mit Michel Houellebecqs „Die Möglichkeit einer Insel“ auch die gegenwärtige Dramatik auf der Bühne stemmen. Ihre crossmediale Version einer Vision vom endlosen Altern ist sicher eine der authentischten, denn der Traum vom ewigen Leben hat nicht nur in dem Roman des französischen Enfant terrible so seine Tücken, auch für die Frauen und Männer der Mülheimer VolXbühne hatte schon die Entwicklung des Theaterprojekts wunderbare, sehenswerte Ecken und Kanten. Aber im Mülheimer Theaterstudio powert erst einmal die Discokugel fürs Finale. Der fixe Allen rast durch die Fässer. Alle genießen den Applaus. Zu Recht.
„Fremd... das sind die Anderen“ | R: Jörg Fürst | WA im Herbst | VolXbühne am Theater an der Ruhr Mülheim | 0208 43 96 29 11
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