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„Der Kirschgarten“
Foto: Birgit Hupfeld

Hysterische Lebensartisten

25. Januar 2018

Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ am Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 02/18

Gut Holz! Die Kirschbäume sind offenbar schon gefällt und zu einer Bretterbühne verarbeitet. Regisseur Sascha Hawemann verlegt Tschechows 12-Personen-Stück frech ins Studio des Dortmunder Schauspiels. Katastrophe hautnah! Die Zuschauer sitzen in einer Reihe um ein hölzernes Bühnengeviert, das mit Stoffbahnen verhängt ist. Alles ein bisschen provisorisch. Billig und heruntergekommen. In der Mitte hängen die Reste eines aufwendig gestalteten Vorhangs, Stühle stehen herum. Ein schäbiger Schrank wirkt wie die Auftrittspforte zu einer Zirkusmanege (Bühne: Wolf Gutjahr). Doch die Schauspieler betreten sowieso von allen Seiten die Bühne. Hier funktioniert nichts mehr: Die großen Auftritte: passé! Die großen Gesten: hohles Gefuchtel! Die Gefühle: Stoff für den Zirkus!

Die hoch verschuldete Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Friederike Tiefenbacher) rauscht mit kindischem Töff-töff und ihrer Bagage aus Paris an, ein hysterisch-überdrehtes Aufjaulen immer griffbereit. Ihr dandyhafter Bruder Gajew (Ekkehard Freye) käut sein Lamento-Repertoire wider und läuft schon mal wie ein Zirkuspferd im Kreis. Jepichodow (Uwe Schmieder, der auch einen wunderbar tattrigen Firs spielt) mutiert mit seinen ständigen Verwechslungen und Missgriffen zum Clown. Der ganze Schlamassel um das auf den finanziellen Hund gekommenen Gut, die Schulden, die Aussichtslosigkeit lösen sich auf in ein sehnsüchtiges Erinnern an die Vergangenheit und die Hoffnung auf eine genauso gestrickte Zukunft. Regisseur Hawemann zeigt eine hysterisch-infantile Datschengesellschaft, die sich einen Dreck um ihre Schulden schert, Kirschen in sich reinstopft und gelegentlich in ihrer Hysterie erstarrt. Die Anspielung auf den Zirkus kann als Metapher für eine ehedem gelungene, heute lächerliche Lebensartistik gelesen werden (mit zartem Verweis auf die DDR). Erinnerung an Zeiten, als das Balancieren und Staunen noch geholfen hat.

Die angebliche Rettung für den Kirschgarten verkörpert Lopachin, Kind früherer Leibeigener, der im Sinne der Verwertungslogik den Kirschgarten parzellieren und Ferienhäuser bauen will. Frank Genser ist sich ein sehr alerter Geschäftsmann, der nur selten in den in Jahrhunderten angelernten Unterwerfungsmodus fällt; er möchte dazugehören, hat aber andererseits die Aufstiegslektion von Effizienz und Sparsamkeit verinnerlicht. Die Inszenierung lässt Sympathien für die Verausgabungssucht der Ranjewskaja erkennen, schlägt sich aber nicht auf deren Seite. Denn auch Lopachins Aufstieg wirkt angesichts heutiger zementierter neoliberaler Gesellschaftsstrukturen wie ein Relikt aus alter Zeit. Darin liegt dann auch die Schärfe dieser sehenswerten Inszenierung: Gemeinsam verkörpern Ranjewska und Lopachin die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, die mehr bereit hielte als der schäbige kapitalistische Neofeudalismus der Gegenwart.

„Der Kirschgarten“ | R: Sascha Hawemann | ausverkauft bis 13.7. 20 Uhr | Schauspiel Dortmund | 0231 502 72 22

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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