Als fast schon niemand mehr dran glauben mochte, öffnete sich eine Luke der Bühne im Großen Saal des Bochumer Schauspielhauses und eine armselige Gestalt mühte sich aus der Unterwelt auf die Bretter. Das also ist er: Tartuffe, der Schleimer, der Betrüger, der religiöse Heuchler, Abschaum, Teufel, mit trumpigem Frauenbild und Hang zur großen Geste. Da steht er nun zwischen den riesigen Worten TREUE und EHRE, die das offene Bühnenbild von Thilo Reuther begrenzen, das auch eine Silhouette eines AfD-Politikers (der Name hilft hier nicht in der Sache, wie immer bei denen) zeigt. Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung wagt den Spagat zwischen textlicher Authentizität und visueller Moderne, ein Spagat der seinen Reiz hat, weil die Schauspieler ihn mitmachen. Orgon (Michael Schütz gibt ihn großartig affektiert dümmlich-blöd) ist bereits seit der Ankunft Tartuffes von „wüstem Wahn befangen“ und will Buße tun – erst einmal in klingender Münze. Bis heute sind die christlichen Kirchen für Spenden offen. So leisten sie sich Barmherzigkeit und goldene Badezimmer. Heuchelei war immer schon bedeutender Lebenszweck, kein Wunder also, dass der französische Komödiengott Jean-Baptiste Poquelin, auch bekannt als Molière diese menschliche Finesse für seinen „Tartuffe“ als Anstoß nahm. Und er musste ihn zweimal umschreiben, bis das Maß an politischer, religiöser Heuchelei für die adlige Beamtenschaft Ludwig XIV. erträglich war.
Schmidt-Rahmer hat die Figur durch den Müllberg der Geschichte der Theatergeschichte gezogen, herausgekommen ist eine hässliche Fratze, abstoßend und schmierig zugleich. Für Jürgen Hartmann als Schauspieler war das sicher ein Fest, für Orgons Ehefrau Elmire (Raphaela Möst spielt sie fast als Trash-Zombie) muss die Verführungsszene mit dem Ekelpaket nicht ganz so prickelnd gewesen sein. Bis auf Tartuffe sind alle Figuren grotesk überzeichnet, liefern mit Slapstick und witzigen Regieeinfällen die komödiantischen Einlagen und trotz fast historischer Masken und Kostüme (großes Kino: Michael Sieberock-Serafimowitsch), auch eine zeitliche Nichtverortbarkeit durch moderne Requisiten oder manch verbale Alltagsformulierung oder einem Sloterdijk-Zitat. Schon das Molière-Intro (Anke Zillich als Madame Pernelle) vor dem Eisernen ans Publikum machte diese Raum-Zeit-Verschiebung deutlich. Balance üben heißt keinem notwendigen Kampf ausweichen, keinen überflüssigen provozieren, so arbeiten auch die Heuchler. Ja, auch die Analogie Tartuffe-Peter Sloterdijk-Marc Jongen hat was, jedenfalls für die, die sich auskennen.
Was daraus folgt: Widerstand. Ihn propagiert die Zofe Dorine (Xenia Snagowski) mit wilder Rocky-Horror-Empathie: Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand ebenzurPflicht. Brecht hatte da wohl aber nie Pegida-Rotten im Sinn. Ordnung, Moral, Anstand, Disziplin hängen nach der Pause als Schilder vom Schnürboden, aber auch Jungfräulichkeit, die soll Tochter Mariane (Kristina Peters) nicht an Rollbrettfahrer Valère (Roland Riebeling), sondern an den ekeligen Dauergast des Hauses verlieren. „No means no“ hatte schon bei ersten Verführungsszene keine Bedeutung, beim Beweis-Pseudo-GV war die neue Rechtsformel sowieso ausgehebelt, der dreiste Rasputin hatte da allerdings die schmierigen Finger bereits am gesamten Hab und Gut der Familie Pernelle. Schmidt-Rahmer lässt seine Figuren zwischen den Schlagwörtern ununterbrochen laufen, kriechen und hüpfen. Die Bedrohung am Marionettenhaushalt nimmt unaufhaltsam zu, nur Schwager Cléanthe (Daniel Christensen), der erst aus dem Zuschauerraum auf die Bühne stürmt, sich dann auch als Kommissar des Königs entpuppen wird, mahnt ohne Widerhall. Dann ist alles weg, das spärliche Mobiliar wird abgeräumt. Nun müssen alle das königliche Selbstauskunftsformular zur Vermögenslage ausfüllen und jetzt merkt auch Madame Pernelle, was die Stunde geschlagen hat. Doch der Monarch schickt auch Rettung. Orgon darf wieder auf der Symbolik von Superreichen reiten, hier ein Balloon Dog von Jeff Koons. Doch die letzte Botschaft Schmidt-Rahmers ist die schwerwiegendste: Der Böse geht ab, ohne das er zur Rechenschaft gezogen wird, und niemanden stört das. Und wenn man dies Trauerspiel mit dem am Internationalen Gerichtshof in Den Haag vergleicht, dann ist die Inszenierung schon sehr nah am Heute, und das war nie weit weg vom 17. Jahrhundert.
„Tartuffe“ | R: Hermann Schmidt-Rahmer | Fr 16.12. 20 Uhr , Sa 17.12. 19.30 Uhr | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
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