Ein Kriterium für gute Kunst ist ihre Beziehung zu den Entwicklungen und Phänomenen ihrer Gesellschaft. Wie weit das reicht, verdeutlicht derzeit eine Themenausstellung im Lehmbruck Museum. Sie untersucht, wie es sich mit den Oberflächen in der Kunst verhält: in ihrer Materialität und dem Prozess ihrer Herstellung, aber auch ihrer Wahrnehmung. Das wird gleich beim Auftakt in der Wechselausstellungshalle angesprochen. Hier stehen sich mit Auguste Rodins „Eva“ (1881) und Julian Opies „Ann“ (2009) zwei für ihre Zeiten hochaktuelle Werke gegenüber. „Ann“ ist die Computeranimation eines Piktogramms. Die Tänzerin setzt die Beine abwechselnd voreinander, wobei ihr Kleid glänzend aufbauscht und sie sich an das Publikum wendet. Den Dialog „verweigert“ Rodins „Eva“ aus Bronze, die, stehend im Kontrapost, mit ihren Armen den Körper umfängt und den Kopf in die Armbeuge sinken lässt. Tatsächlich ist sie die reale Skulptur. Rodin steht aber auch am Anfang einer Moderne, welche die geschlossene Oberfläche sozusagen zerstört und ihr eine expressiv drastische Präsenz verliehen hat: Wir sind mitten im Thema der Ausstellung.
Natürlich ist die Haut „die“ Fläche in der Kunst schlechthin, das unterstreichen etliche Beiträge der Ausstellung, allen voran die hoch angesagte Berlinde De Bruyckere. Ihre monumentale Plastik aus Holzstamm und geschundenem Körper in pathetischer Haltung ist schiere Existenz zwischen Leben und Tod. Sie befindet sich, aufwändig ausgeführt in Wachs, Polyester und weiteren Materialien, auf einer Sichtachse zur fast hinschmelzenden, ebenfalls mit Wachs (über Gips) realisierten Porträtbüste von Medardo Rosso (1883/84). Dazwischen datieren die makellos glatten Metallflächen der (gegenstandsfreien) Konkreten Kunst, etwa von Max Bill. Der junge Jeppe Hein nimmt die Perfektion über unseren Köpfen, an der Decke des Raumes, wieder auf: Dort wird die gewölbte Fläche des Luftballons zum Spiegel des Körpers.
Gänzlich immateriell ist die Oberfläche des Touchscreens. Evan Roth zeigt in seinen Videosequenzen Handys, deren Display geschwärzt ist. Die Finger springen über die (teilweise gerissene) Kunststofffläche. Janet Cardiff betont demgegenüber die Realität der Oberfläche und das Moment der Berührung. In ihrer hintersinnig romantischen Rauminszenierung „To Touch“ (1994) streicht der Besucher über einen Holztisch mit Alters- und Gebrauchsspuren, wobei je nach Stelle und Art der Berührung Geräusche oder Stimmen aus verschiedenen Richtungen des verdunkelten Raumes zu hören sind. Jenny Holzer wiederum zeigt glatt abweisende Fotografien. Auf Hautausschnitte sind mit Tinte Texte geschrieben, die aus verschiedenen Blickwinkeln sexuelle Gewalt beschreiben. Die Haut wird, nun selbst verletzt, zur intimen physischen Schicht, die aber auch die Psyche nicht schützen kann. Natürlich ist das die berührendste Arbeit der Ausstellung. Sowieso müssen die Kunstwerke nicht spektakulär auftreten. Bei Dorothée Golz‘ Beitrag ist alles zurückhaltend. In einer Fensternische ist ein Service zu sehen, das mit Kunstharzfäden überzogen ist und auf Meret Oppenheims „Pelztasse“ anspielt, eine Ikone des Surrealismus. Ebenfalls den ambivalenten Ton des vertraut Fremden trägt Daniel Canogars „Obscenity of the Surface“. Die installative Arbeit besteht aus einem Bündel aus Glasfaserkabeln, die sich zwischen Decke und Boden an Fäden wie ein Tierwesen krümmen und zugleich strecken. Jeder Fühler projiziert ein nahe gezoomtes Stück Hand auf die Wand, das mit den anderen Projektionen verschmilzt. Wenn wir über die Kabel streifen, ändert sich der Berg von Haut und Körper und zeigt in der Vibration der Bilder intensive Berührungen. Es ist ein Statement für die gesamte Ausstellung: Auch im technologischen Zeitalter gibt es keine intensivere, sinnlichere Oberfläche als die menschliche Haut.
„An der Oberfläche_On Surface“ | bis 23.10. | Lehmbruck Museum Duisburg | 0203 283 32 94
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