„Das hat dir der Teufel gesagt!“ – das Rumpelstilzchen war schon ein böser Bube. Das gleiche Urteil traf im 18. Jahrhundert auch Marquis de Sade, der die Unmoral zur Obsession machte. „Mütter, macht euren Töchtern die Lektüre zur Pflicht“, so empfahl er 1795 sein Werk „Die Philosophie im Boudoir“. Da führen Adelige und ein paar der damaligen Upper-Class (wer hatte auch sonst Zeit für sowas!) ein junges Mädchen in die Sexualität ein. De Sade war da gerade einem Todesurteil und dem Kerker wegen Geisteskrankheit entronnen. Dennoch: Napoleon lässt am Ende des Jahres in Paris einen royalistischen Aufstand mit schwerem Geschütz zusammenschießen. Die Geschichte vom Rumpelstilzchen gab es damals auch schon. Herbert Fritsch wird die lustvolle Fantasie aus der französischen Revolution auf die große Bühne in Bochum heben, extreme Gedanken brauchen extreme Ankerplätze. Für ihn hat De Sade das Dokumentarische überwunden, von dem wir immer denken, es führe zu irgendwelchen Wahrheiten. Man darf gespannt sein, denn die als Pamphlet verschriene Lektüre über lasterhafte Lehrmeister und ihr Hobby „Erziehung junger Damen“ bleibt bis heute diskutabel, insbesondere der beispielslose Gewaltakt am Ende.
Ein paar Kilometer weiter kämpfen auch in Dortmund Menschen um Wahrheiten. Allerdings haben sie sich die Realität selbst zusammengeschustert und sind reingefallen auf ein geschicktes Rumpelstilzchen – das bei Molière „Tartuffe“ heißt – und bemüht ist, sein falsches Büßergewand zu versilbern. Herausgekommen ist so eine der teuflischsten Komödien der Weltliteratur und eines der wohl absurdesten Happy Ends der Theatergeschichte. Aber vielleicht findet Regisseur Gordon Kämmerer ja eine neue Adaption, beim Ringen einer Familie mit den geschickten Boshaftigkeiten eines Betrügers, der auch vor amourösen Abenteuern nicht zurückschreckt. Ein Fehler? Nun, man wird sehen wie sich der Hausherr und seine Mutter in den religiösen Fallstricken verirren, wie Haus und Hof verloren gehen – oder doch nicht. Ein Geisterreiter wird das bei „Tartuffe“ wie immer klären.
„Die Philosophie im Boudoir“ | R: Herbert Fritsch | 22.12.(P), 4.1. 19.30 Uhr, 23.12. 17 Uhr, 27.12. 19 Uhr, 31.12. 16 u. 20 Uhr | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
„Tartuffe“ | R: Gordon Kämmerer | 1.12.(P), 8., 22., 31.12., 12.1. 19.30 Uhr | Schauspielhaus Dortmund | 0231 502 72 22
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mit Psyche in die Unterwelt
„Underworlds. A Gateway Experience“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 01/23
Tonight's the Night
Musikalische Silvester an den Theatern im Ruhrgebiet – Prolog 12/22
Zeichenhafte Reduktion
NRW-Kunstpreis an Bühnenbildner Johannes Schütz verliehen – Theater in NRW 12/22
Das Kollektiv als Opfer
„Danza Contemporanea de Cuba“ in Bochum – Tanz an der Ruhr 12/22
„Es geht um eine intergenerationelle Amnesie“
Vincent Rietveld über „Bus nach Dachau“ am Schauspielhaus Bochum – Premiere 11/22
Keine Versöhnung in Sicht
„Einfach das Ende der Welt“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 10/22
Das Viech im Karussell
„Woyzeck“ im Dortmunder Theaterstudio – Auftritt 10/22
The Return of Tragedy
Theater im Ruhrgebiet eröffnen die neue Spielzeit – Prolog 09/22
„Die Urwut ist ein Motor des Menschen“
Jessica Weisskirchen über ihre Inszenierung des „Woyzeck“ – Premiere 09/22
„Viele Leute sind froh, dass sie in Bochum sind“
Liesbeth Coltof über „Hoffen und Sehnen“ – Premiere 06/22
Keine Helden im Posthumanismus
„The Shape of Trouble to come“ in Bochum – Bühne 05/22
Panenka-Heber und Dialog-Doppelpässe
„Nicht wie ihr“ im Deutschen Fußballmuseum Dortmund – Bühne 05/22
„Musik ist der tiefsinnigste Ausdruck einer Kultur“
Harry Ogg dirigiert in Duisburg „Die tote Stadt“ – Interview 06/23
Kunst gegen Krise
11. asphalt Festival in Düsseldorf – Festival 06/23
Des Esels Freiheit
Late-Night-Show auf Bochums Bobiennale – Festival 06/23
Puzzlestücke des Elends, Papiermasken für Mitgefühl
Alice Birchs „[Blank]“ in den Kammerspielen Bochum – Auftritt 06/23
„Das Theater muss sich komplexen Themen stellen“
Haiko Pfost über das Impulse Theaterfestival 2023 – Premiere 06/23
Dada-Gaga und die Apokalypse
Bobiennale: Kunstmix in Bochum-Hamme – Festival 05/23
Pennen für den Planeten
„Der lange Schlaf“ in Oberhausen – Prolog 05/23
Glück auf, Digitalisierung!
New Now in Essen – Festival 05/23
Urbane Wettkämpfe
Ruhr Games in Duisburg – Festival 05/23
Wodka gegen die Wiederkehr des Gleichen
Anton Tschechows „Onkel Wanja“ am Theater Dortmund – Auftritt 05/23
Im Kreise eines Theatergotts
Neuss: Shakespeare Festival im Globe – Prolog 05/23
Gaga goes Recklinghausen
„Soul Chain“ bei den Ruhrfestspielen – Tanz an der Ruhr 05/23
„Die kleinen Leute dürfen frech werden“
Dietrich W. Hilsdorf inszeniert „Bernarda Albas Haus“ in Gelsenkirchen – Interview 05/23