In Bo Wimmers Erzählwelt wird gerade kanisterweise Wodka angeschleppt, als der Slammer von der Stimmung in den ersten Reihen aus dem Konzept gebracht wird: „Ich trage hier Lyrik vor“, raunt der Marburger, der mit ironischer Mimik auf der Monsterleinwand im rappelvollen Veranstaltungssaal des FZW erscheint. „Wo bin ich denn hier gelandet?“ Ja, das Konzept Poetry Slam hat bekanntlich unlängst Event-Charakter erreicht. Auch zum wohl größten „modernen Dichterwettstreit“ im Ruhrgebiet strömen monatlich hunderte BesucherInnen, nicht selten sind die Veranstaltungen ausverkauft – und dass im Konzert-Tempel FZW, wo sonst Rock- und Pop-Größen auftreten, wo auch an diesem Abend vor allem junge Menschen auf diesen Slam-Poeten Bo Wimmer schauen, der vom „Partygeist“ erzählt, aber so gar nicht wie ein Feierbiest aussieht: auffällig-dezente Pulli-Weste über altherren-beiger Leinenbuxe, glatte Grunge-Mähne und 7-Tage-Bart. Wer slamt, der performt in erster Linie. Und Bo Wimmer ist so eine Slam-Künstler-Figur: Mehr Entertainer als Poet. „Krawall und Remmidemmi“, kündigt er an. Beste Unterhaltung gibt es schließlich in seinem Beitrag über Partyekstase: „Saufen, Kiffen und Zerstören, diese Welt soll uns gehören“, heißt es später.
Bei so viel Eventstimmung auf den Rängen geht dann der Text von Frederike Jakob fast unter. Ihre Zeilen eröffnen eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist: „Wir träumten grenzenlos“, erzählt ihr lyrisches Ich von einer Aufbruchstimmung während der Schulzeit. Was schließlich verpufft, sind mehr als die Träume, Jakobi erzählt von einer bunten Klasse, einer selbstverständlichen Multikulti-Mentalität, die sich in den Wirren des Weltgeschehens verliert: es geht um Frontex-Einsätze und um Eingeständnisse, doch nicht mehr als ein Zahnrad im Getriebe der kapitalistischen Gesellschaft zu sein. „Unsere Träume zerplatzen unter dem Gewicht der Zeit.“ Wütender, direkter Slam – vielleicht larmoyant, dafür mit der mutigen Ansage: „Ich bin Poetin und predige, wie es hätte sein sollen.“
Wutbürger Frank
Um „einige Prediger von Pegida“ geht es dagegen in einem Beitrag von Sebastian 23, der außer Konkurrenz auftrat. Lügenpresse, (um Frauen) besorgte Bürger und Fremdenhass – sein Text „Frank und Freiheit“ thematisiert pointiert und treffsicher den aktuellen Rechtsruck in der Gesellschaft.
Eine Predigt der ganz anderen Art ist schließlich Bo Wimmers Finalbeitrag, ein Plädoyer für den Penis oder wie der Künstler sein Werk kommentiert: „Ein feministischer Text, der missverstanden wurde.“ Slam als Diskurs des Schwanzes: Von der Philosophie der Länge über die feuilletonistische Penis-Besprechung bis zur nudistischen Aufforderungen, mal einfach baumeln zu lassen. Im Saal des FZW sorgt das für einige Lacher. Via Applaus-Barometer wird Bo Wimmer zum Sieger des Abends gekürt – das hoffentlich lauteste Missverständnis seit es Dichterwettstreite gibt. Echte Gender-Knabenmorgenblütenträume und eine herrliche, unbekümmerte Slam-Bierseligkeit – auf der Bühne wie im Publikum. Zu einem Großevent gehört das eben dazu.
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