Das selbst ernannte „beste Festival der Welt“, nämlich die „FAVORITEN 2016“, sind seit dem vergangenen Freitag eröffnet. Zehn Tage lang füllt sich das Dortmunder Unionsviertel bis zum Rand mit Performances und Installationen der freien Theaterszene NRWs. Als besonders vielseitig wurde das gold glänzende Programm angekündigt und schon in den ersten Stunden des Festivals ließ sich erahnen, dass das Programm halten wird, was es verspricht. Unterschiedlicher könnten die zwei gesehenen (oder in einem Fall besser: erlebten) Theaterarbeiten nicht sein.
Den Anfang machte am frühen Freitagnachmittag „Das Glitzern der Welt“ der Bochumer Gruppe kainkollektiv. Nur sechs Leute sind pro Vorstellung zugelassen, weshalb die Performance mehrmals auf dem Festival zu sehen sein wird. Zu Beginn des ersten Teils muss der Personalausweis gegen einen MP3-Player eingetauscht werden und es beginnt ein sogenannter Audiowalk auf dem Dach des Dortmunder U. Alle Teilnehmenden hören zeitgleich über ihren Player derselben Stimme zu, die entweder die Umgebung beschreibt oder Anweisungen gibt, welche Richtung eingeschlagen werden soll. So wandern wir durch das U, den Hiltropwall entlang, in das Einkaufszentrum „Thiergalerie“. Das Konzept geht immer dann wunderbar auf, wenn der sehr kluge Text der Stimme mit dem korrespondiert, was zu sehen ist, denn dadurch ergibt sich ein frischer Blick auf all das, was schon tausendmal gesehen wurde und die (allerdings nicht völlig neue) Erkenntnis, wie flach und künstlich weite Teile der westlich-kapitalistischen Welt sind. Schwierig wird es immer dann, wenn die Stimme Phantasiebilder aufmacht oder zu sehr in eine eigene Gedankenwelt eintaucht: Der eigene Blick wird wieder alltäglich unscharf.
Der Audiowalk endet in einem kleinen Transporter mit genau 6 Sitzplätzen vor der „Thiergalerie“. Die Fenster sind mit schwarzer Plane verklebt. Kein Licht dringt von außen herein, auf einem Fernseher flackern Bilder. Wohin die Fahrt geht, wird nicht verraten. Dieser zweite Teil der Arbeit ist klaustrophobisch und rätselhaft. Dient die Abdunkelung des Fahrzeugs nur dazu, die Teilnehmenden zu befördern, ohne dass sie wissen auf welchem Weg und wohin? Wie ein Schnitt im Film? Oder will die Fahrt mehr sein? Aus dem Ankündigungstext wissen wir, dass es um die dreckige Geschichte Europas gehen soll. Sollen wir auf dieser Fahrt etwa eine Ahnung davon bekommen, wie es sein kann, in einem dunklen Transporter zu sitzen, ohne Licht, mit zu wenig Sauerstoff und ohne zu wissen, wo es hingeht? Soll uns reichen, verwöhnten Europäern eine Lektion erteilt werden? Falls ja, mit welchem Recht?
Als der Transporter endlich am Dortmunder Hafen hält, reißt der Schauspieler David Guy Kono aus Kamerun die Tür auf und führt das kleine Publikum herum, erzählt von Douala, dem riesigen Hafen Kameruns, von dem aus, vom Militär bewacht, unsere alltäglichen Luxusgegenstände verschifft werden. Dann führt er in das Hinterzimmer eines Restaurants. Wieder ist alles dunkel, bis auf ein paar Kerzen. Wir müssen uns anhand von zuvor ausgefüllten Fragebögen vorstellen. Zu den Gesängen des Kameruners klatschend im Kreis tanzen. Fragen beantworten die „von den Toten kommen“: Wie können wir zusammen leben? Was siehst du, wenn du mich siehst? Einen Mensch? Einen Schwarzen? An dieser Stelle kippt die Performance ins Unangenehme, wird beinahe übergriffig und unterschätzt sein Publikum, das sich gewiss zu diesen Fragen schon Gedanken gemacht und eine Haltung entwickelt hat, sich deshalb über ihre Komplexität im Klaren ist. Das „Glitzern der Welt“ will viel, aus Publikumsperspektive eigentlich viel zu viel. Andererseits ist es gut zu wissen, dass es Theaterschaffende gibt, die nicht versuchen, den Zustand der Welt in anderthalb entspannte Theaterstunden zu pressen.
Auch die zweite auf dem Festival gezeigte Arbeit erzählt von zwei Welten, einem Mikrokosmos und der Außenwelt. „Taxigeschichten“, eine Koproduktion des Theater Oberhausens zusammen mit dem Pumpenhaus in Münster. Der Regisseur Amir Reza Kohestani hat aus den Geschichten des aus dem Iran kommenden und in Berlin arbeitenden Taxifahrers Naser Ghiasi diesen Theaterabend entwickelt. Fünf SchauspielerInnen spielen vor einem Greenscreen, auf dem z.B. Straßen oder ein Wald zu sehen sind. Es entsteht ein Film, live vor den Augen des Publikums. Das klingt spannend und unterhaltsam. Ist es aber nicht. Denn: Der Taxifahrer weiß alles, kennt alles, hat alles schon erlebt; reagiert auf jede Situation in seinem Fahrzeug gelassen und gekonnt. Die Skurrilität der Fahrgäste kann so nicht zum Ausdruck kommen. Der Greenscreen trägt nicht dazu bei, die Geschichten näher ans Publikum heranzurücken, sondern drückt sie platt an die Wand, sie werden im besten Fall zweidimensional. Die SchauspielerInnen haben keine Chance. Die Hintergründe wirken darüber hinaus beliebig. Es scheint irrelevant zu sein, welche Straßen zu sehen sind, ob sie tatsächlich aus Berlin sind oder dass der Hintergrund für einen Polizisten eindeutig das Betriebsbüro eines Theaters und gewiss kein Polizeipräsidium ist. Der technische Aufwand ist immens, der Effekt rechtfertigt ihn leider nicht.
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