Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung. Blabla, im Rücken die Ruinen von Europa. Ja, Heiner Müller. Um diesen unseren Kontinent geht es auch in Lars von Triers Europa-Trilogie. Nach „The Element of Crime“ (1984) und „Epidemic“ (1987) heißt es dann im Abschlussfilm „Europa“ (1991): „Du hörst jetzt auf meine Stimme. Meine Stimme wird dir helfen, dich noch tiefer nach Europa zu führen. Ich zähle jetzt von eins bis zehn, bei zehn wirst du in Europa sein.“ Philipp Preuss inszeniert im Theater an der Ruhr die Reise des jungen Deutschamerikaners Leopold Kessler durch das surreale, verwüstete Deutschland der Nachkriegszeit, in dem noch nationalsozialistische Fanatiker, sogenannte Werwölfe durch die Szenerien geistern und derZentropa-Schlafwagenschaffner Leopold im Verlauf vor schwierige Entscheidungen gestellt werden wird. Da wird die Tochter seines braunbelasteten Chefs, Max Hartmann geheiratet, die dann entführt wird. Daraufhin wirdKessler erpresst, doch die Dinge scheinen in der deutschen Stunde Null nicht so zu sein, wie sie zu sein scheinen.
Das hypnotische des Films wird nun von Preuss auf die Mülheimer Theaterbühne transportiert unter dem Titel „Europa oder die Träume des dritten Reichs“ und dem Hinweis *nach* Lars von Trier in die Zeitgenössischkeit einer von Pandemien geschüttelten (nicht gerührten) Gesellschaft erweitert. Denn das braun zuckende Virus der Vergangenheit ist noch lange nicht besiegt. Wo fängt also das kafkaesk Reale des Drehbuchs immer wieder an und wo hört der tatsächliche Widerstand gegen das Gestrige immer wieder auf? Das sind Fragen, die nach 75 Jahren immer noch nicht ausreichend beantwortet sind, und in Deutschland bleibt die Brechtsche Ahnung von 1957 über den immer fruchtbar bleibenden Schoß wohl allgegenwärtig und scheinbar gen-immanent. Der deutschamerikanische Schlafwagenschaffner jedenfalls hat dies zu seinem Leidwesen einsehen müssen. Die Konsequenz, die Leopold bei dieser Reise zieht, kann und muss wohl als Vision reichen.
Europa oder die Träume des Dritten Reichs | R: Philipp Preuss | Online-Premiere: 22.11. 19.30 Uhr | www.twitch.tv/theateranderruhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 599 01 88
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