Der Feind der Norm zu sein, ist eine wunderbare Idee. Wenn da das Laster nicht wäre. Oder vielleicht doch inklusive? Das Laster selbst ist das Loch im geordneten Universum und so braucht man für das skurrile Spiel des Marquis de Sade um Orgie und Welt doch ab und an mal Clayderman. Herbert Fritsch baute sich für seine Inszenierung über „Die Philosophie im Boudoir“ einen eigenen Höllenpfuhl aus spiegelnder Fläche und einem rechteckigen Loch in der Bühne, aus dem ein Quader sich ab und an erigierte, aus dem die Handelnden krochen, in dem sie wieder hinabsanken. „Mütter, macht euren Töchtern die Lektüre zur Pflicht“, nun ja. „Dialoge, zur Erziehung junger Damen bestimmt.“ Die dem Buch innewohnenden philosophischen Ideen zur Freizügigkeit in Bett und Gesellschaft haben viele Reihen Bochumer Theaterbesucher nicht mehr gehört, zittrig verließen sie den verruchten Ort. Variationen des variablen Geschlechtsverkehrs als serielles Ereignis war manchen dann doch zu viel, dabei hatte sich Fritsch doch wirklich bemüht den Text in wahnsinnige Bilder zu kleiden, die von Anfang an klar machen: Das wird eine sinnliche Performance aus Bild, Licht und Klang.
Schon zu Beginn stieg eine leicht bekleidete Schönheit aus dem Loch in den Himmel. Sie wurde an den nackten Haaren gezogen – und ward nicht mehr gesehen. Die grandiosen fünf Schauspielerinnen und ein Mann (Scherz) agierten furchtbar diszipliniert in üppiger Kostümgewalt (ein Traum von Victoria Behr), die Regie choreografierte, drapierte und hauchte die sechs ab und an über die blanke Fläche und um den mächtigen Quader. Ja, das Maximum an Fantasie (und darüber hinaus) muss ertragen werden. Und mal ehrlich, irgendwie spielt sich doch wieder alles intern in adeligen Kreisen ab – wenn sie sich dann lieber selbst guillotinieren mögen, oder besser zu de Sades Zeiten: die, die da noch übrig waren, dann sei es so. Leidenschaft, die Leiden schafft, gab und gibt es ewiglich, vielleicht waren es ja auch gläubige Katholiken, die da kurz vor Weihnachten rausgerannt sind, aber so jung soll Eugénie de Mistival doch gar nicht gewesen sein. Boshaftigkeit beiseite, zurück zum Wüstling und der Inszenierung, die in satten Bildern schwelgt. Natürlich ist nichts zu sehen, natürlich wird da nur gequatscht in bösen schweinischen Dialogen, viel Text, in dem auch das Manifest an Landsleute: „Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“, verarbeitet sein will. Am Ende noch eine mädchenhafte Lehrstunde fürs Sticken während der Querab-Masturbation. Eugénies Mutter steht plötzlich in der Tür, findet die Orgie wohl nicht so toll und muss, mit der Syphilis infiziert und vorne und hinten zugenäht ihr Dasein fristen. Lang wird es nicht gedauert haben.
Heute leben wir die ummauerte Posthumanität, krächzen im Gleichschritt die verlogenen ewig gestrigen Moralvorstellungen, während die Körper massenhaft im Meer aufblähen. Ja, auch dafür passen die Fritschschen Bilder weiß maskierter Folterknechte, die sich ihre (eine) scheinbare Freiheit des Geistes bewahren wollen. Den Geist, den Fritsch zu Beginn aus dem Höllenpfuhl zog, den ließ er am Schluss wieder hinab. Ob er auch brav den Deckel wieder zu gemacht hat – wer weiß das schon?
„Die Philosophie im Boudoir“ | R: Herbert Fritsch | 2., 9., 16.2. je 19.30 Uhr | Schauspielhaus Bochum | www.schauspielhausbochum.de
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