Das Thema bietet Stoff für einen Thriller im Feuilleton. Kinderrechtsverfechter, Gläubige, Freidenker, Juristen, Mediziner, sie alle schlagen in Talkshows aufgeregt aufeinander ein, ohne sich gegenseitig zuhören zu können. Es scheint keinen Kompromiss in der Frage zu geben, die seit Verkündung des sogenannten Kölner Beschneidungsurteils heftig diskutiert wird. Eine halbe Vorhaut zu beschneiden befriedigt weder Verfechter noch Gegner des religiösen Ritus‘. Eine respektvolle und ruhige Darstellung der verschiedenen Standpunkte mag in diesem Fall helfen.
Zunächst fehlen oft hinreichende Informationen über die beiden Weltreligionen, die Knaben beschneiden wollen. Alles fing an mit Urvater Abraham, der als hochbetagter Mann von Gott die Botschaft erhielt, dass er sowohl seinen leiblichen Sohn Isaak wie auch den Sohn seiner Haushälterin Ismael beschneiden solle. Als der uneheliche Spross Abrahams mit seiner Mutter in die Wüste geschickt wurde, spaltete sich der Nahe Osten in zwei Lager, Araber und Juden. Wie das oft so ist mit Halbgeschwistern, gibt es viel Zwist und Neid untereinander, aber eben auch gemeinsame Wurzeln. Im Falle von Juden und Arabern bedeutet dies: Verzicht auf Schweinefleisch, Schächtgebot und eben Beschneidung. Erst die dritte sich auf Abraham berufende Weltreligion machte mit diesen Dogmen Schluss, setzte dafür neue in die Welt. Hätte es im Jahre 50 n. Chr. bereits Diskussionsrunden im Fernsehen gegeben, sie hätten den heutigen wahrscheinlich sehr geähnelt. Statt mit Worten argumentierte man aber damals und in den folgenden mehr als tausend Jahren lieber mit dem Schwert. Die Beschneidung war in jenen Kriegen ein wichtiges identitätsstiftendes Zeichen. Ob bei Kreuzzügen gegen die Muselmanen oder bei Pogromen gegen Juden, der Zustand des männlichen Geschlechtsorganes wies eindeutig die Gruppenzugehörigkeit aus. Auch das macht die Vorhaut für viele Menschen heute noch so wichtig.
Gerade jetzt wird den islamischen und jüdischen Theologen vorgeworfen, sich rationalen Argumenten zu verstellen. Das aber ist so, als werfe man einem Blinden vor, nicht sehen zu können. Alle Religionen, auch die christliche, zeichnen sich dadurch aus, das Irrationale im Menschen anzusprechen. Wer als gläubiger Atheist auf die Fragen „Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?“ nur geographische Antworten parat hat, kann natürlich nicht verstehen, warum kleine Kinder für einen Gott, dessen Existenz man in wissenschaftlichen Untersuchungen noch immer nicht schlüssig nachweisen kann, bluten sollen.
Der Standpunkt der Schützer der Kinderrechte ist zunächst einfach. Kindern soll kein Leid zugefügt werden. Punkt. Deshalb ist die Beschneidung Minderjähriger zu verbieten. Punkt. Von wegen Punkt. Sofort ist man in einer Aufrechnung verschiedener kultureller Normen verfangen. Ist das Anlegen abstehender Ohren bei Kindern verfassungskonform? Dürfen Eltern darüber entscheiden, ob geimpft wird oder nicht? Radikale Impfbefürworter und Impfgegner können sich in hitzigen Debatten schnell gegenseitig vorwerfen, Kinder fahrlässig Todesgefahr auszusetzen. Dem Götzen Auto werden übrigens jährlich in Deutschland über einhundert Kinder unter 16 Jahren geopfert. Fordern Kinderschützer ein Verbot des Autoverkehrs oder zumindest ein Verbot letaler Geländewagen mit Bullenfängern? Eher wird, so ein jüngst bekannt gewordenes Gerichtsurteil, das Stechen von Ohrlöchern bei Dreijährigen untersagt. Das Kindeswohl kennt viele Facetten. Natürliche Verbündete der Kinderschützer sind diejenigen, die alles in gesetzliche Normen pressen möchten. Wenn Rauchen schädlich ist, wird es verboten. Schon ist das Problem gelöst. Aber löst ein gesetzliches Beschneidungsverbot das Dilemma? Rechtsnormen sind kein statisches Gut. Die Geschichte des Paragraphen 218 ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Wann beginnt Leben? Wo darf in das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen eingegriffen werden? Abtreibungsgegner und Abtreibungsverbotsgegner begründen mit drastischen Beispielen ihren Standpunkt, den sie für makellos erachten. Egal aber, wie man zur Abtreibung steht, die Liberalisierung des Gesetzes hat dazu geführt, dass weniger Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Das Beispiel zeigt: Gerade dann, wenn in der Gesellschaft unversöhnlich erscheinende Meinungen aufeinanderstoßen, sind repressive Regelungen eher untauglich. Natürlich sollte, und das zeichnet sich in der aktuellen Beschneidungsdiskussion ja ab, der Eingriff durch medizinische Laien und ohne Narkose verboten werden. Ein generelles Beschneidungsverbot würde viele Eltern allerdings in die Arme religiöser Kurpfuscher treiben. Statt strenger Gesetze benötigen wir dringend die soeben begonnene Debatte. Wenn Eltern freundlich und zugewandt erklärt wird, welche negativen Folgen eine Beschneidung haben kann, wird der ein oder andere zögern, sein Kind diesem Eingriff auszusetzen. Der Geist der Aufklärung ist eben nicht durch Gesetze zu erzwingen.
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