
Was tun, wenn „der Russe“ tatsächlich kommt? Die Bundesregierung und weite Teile der bundesdeutschen Publizistik trommeln derzeit ohrenbetäubend für militärische „Lösungen“. Was es im Fall eines Krieges mit einer Atommacht wie Russland aber noch zu verteidigen gäbe, sagen weder „Kriegstüchtigkeitsminister“ Boris Pistorius (SPD) noch die ihn treibenden „Bürosessel-Feldherren“ in den Redaktionsstuben. Dabei müsste nicht nur Ihnen, sondern jedem und jeder der potenziell weltauslöschende Charakter eines solchen Krieges bewusst sein. Gut also, dass Akteure der Friedensbewegung in den 1960er und -70er Jahren angesichts des atomaren Wettrüstens im Kalten Krieg das Konzept einer Sozialen Verteidigung erarbeitet haben, das sich einer militärischen Verteidigungslogik verweigert. Der Schwerpunkt der Sozialen Verteidigung liegt nicht in der Verteidigung eines Territoriums, die Grundlage jeder militärischen Verteidigungslogik ist. Nein, den Schwerpunkt Sozialer Verteidigung stellt die Verteidigung von Strukturen der Zivilgesellschaft gegen einen militärischen Angreifer und Besatzer dar – nach dem Motto „Lieber besetzt als tot“, wie es Ole Nymoen, Autor des Buches „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ im Juli in der ZDF-Talkshow Markus Lanz formulierte; wofür er weitgehendes Unverständnis erntete.
„Lieber besetzt als tot“
Statt eine politisch-historische Einflusssphäre zu verteidigen, stellt Soziale Verteidigung die Wahrung von Menschenleben und zivilen Strukturen in den Mittelpunkt ihrer Strategie. Methoden des gewaltfreien Kampfes sind nach dem Sozialwissenschaftler, Pädagogen und langjährigen Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft-Verband der KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Michael Schmid, u.a. der Dialog mit dem Gegner; symbolische Aktionen wie Demonstrationen, Protestmärsche, Mahnwachen; Nichtzusammenarbeit auf gesellschaftlichem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet; ziviler Ungehorsam, wie die Weigerung, ungerechte Gesetze oder Anordnungen zu verwirklichen oder Streiks. Die Rechnung hinter dem Konzept der Sozialen Verteidigung: Nachteile der Machtausübung von Besatzern sind eher zu ertragen, als die große Zahl menschlicher Opfer sowie Zerstörungen von Gebäuden und Infrastruktur, die die militärische Verteidigung notwendigerweise mit sich brächte.
Sektierertum beenden
Soziale Verteidigung ist aber nicht voraussetzungslos. Der Ansatz geht zum einen von einem „rationalen“ Aggressor aus, der größten Nutzen (Ressourcen und Arbeitskraft) aus seinem Angriff ziehen will und deshalb an der Beherrschung des angegriffenen Landes interessiert ist. Zum anderen wäre auf Seiten des Sozialen Widerstands eine politische Kultur notwendig, in der Kontroversen ohne sektiererische Haarspalterei ausgetragen werden können. (Dasselbe gilt übrigens auch für die gegenwärtige Friedensbewegung, will sie wieder Einfluss entwickeln.) Eine solche politische Kultur müsste nicht in Einigungen in der Sache münden, sondern in einen Modus Vivendi, der trotz fortbestehender Pluralität gemeinsames Handeln ermöglicht.
Lernen aus der Geschichte
Wer jetzt denkt: „Schön und gut, aber das ist doch alles total unrealistisch“, der möge sich beispielsweise an den Prager Frühling 1968 erinnern oder an die Widerstandsbewegungen gegen die Nazi-Besatzung in den Niederlanden, Dänemark oder Norwegen. Gerade im Prager Frühling zeigte sich deutlich, welche Wirkung es auf Soldaten hat, wenn sie bei einer Besatzung keinen bewaffneten, kampfbereiten Gegnern gegenüberstehen – sondern mit nichts anderem als mit ihrer Diskussionsbereitschaft „bewaffneten“ Menschen.
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Konflikt-Kanzler
Intro – Friedenswissen
„Als könne man sich nur mit Waffen erfolgreich verteidigen“
Teil 1: Interview – Der Ko-Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung über waffenlosen Widerstand
Widerstand ohne Waffen
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen und ihr Landesverband NRW
Herren des Krieges
Teil 2: Leitartikel – Warum Frieden eine Nebensache ist
„Besser fragen: Welche Defensivwaffen brauchen wir?“
Teil 2: Interview – Philosoph Olaf L. Müller über defensive Aufrüstung und gewaltfreien Widerstand
Politische Körper
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Kölner Friedensbildungswerk setzt auf Ganzheitlichkeit
Unser höchstes Gut
Teil 3: Leitartikel – Von Kindheit an: besser friedensfähig als kriegstüchtig
„Das ist viel kollektives Erbe, das unfriedlich ist“
Teil 3: Interview – Johanniter-Integrationsberaterin Jana Goldberg über Erziehung zum Frieden
Platz für mehrere Wirklichkeiten
Teil 3: Lokale Initiativen – Kamera und Konflikt: Friedensarbeit im Medienprojekt Wuppertal
Kinder verkünden Frieden
Das Projekt „Education for a Culture of Peace“ – Europa-Vorbild: Zypern
Brauerheer statt Bundeswehr
Wie ein Biertornado die Gewaltspirale aus dem Takt wirft – Glosse
Unbezahlbare Autonomie
Teil 1: Leitartikel – Die freie Theaterszene ist wirtschaftlich und ideologisch bedroht
Inspiration für alle
Teil 2: Leitartikel – Wer Kunst und Kultur beschneidet, raubt der Gesellschaft entscheidende Entwicklungschancen
Der Kulturkampfminister
Teil 3: Leitartikel – Wie Wolfram Weimer sein Amt versteht
An den wahren Problemen vorbei
Teil 1: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen
Teuer errungen
Teil 2: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
Journalismus im Teufelskreis
Teil 3: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst
Die Unfähigkeit der Mitte
Teil 1: Leitartikel – Der Streit ums AfD-Verbot und die Unaufrichtigkeit des politischen Zentrums
Hakenkreuze auf dem Schulklo
Teil 2: Leitartikel – Wo Politik versagt, haben Rechtsextremisten leichtes Spiel
Faschismus ist nicht normal
Teil 3: Leitartikel – Der Rechtsruck in Politik und Gesellschaft – und was dagegen zu tun ist
Der Ast, auf dem wir sitzen
Teil 1: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
Keine Frage der Technik
Teil 2: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
Nach dem Beton
Teil 3: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten