trailer: Herr Apel, wie haben Sie auf das Kölner Urteil reagiert, das die religiös motivierte Beschneidung von Jungen für nicht rechtmäßig erklärt?
Avichai Apel: Das Urteil war für mich eine große Enttäuschung. Unsere Gemeinde lebt seit über 60 Jahren wieder hier in Dortmund. Nach dem Holocaust gab es 50 Menschen jüdischen Glaubens. Inzwischen haben wir 3.500 bis 4.000 Mitglieder. Die Juden in Dortmund haben sich hier wohlgefühlt. Und nun wird ein Fundament jüdischer Identität angegriffen, nämlich das Beschneidungsgebot von Jungen am achten Tag nach der Geburt.
Werden denn weiterhin Beschneidungen durchgeführt?
Ja, wir haben uns mit Juristen beraten. Das Urteil verbietet nicht die Beschneidung. Deshalb haben wir unsere Mitglieder auch ermutigt, weiter Beschneidungen vorzunehmen.
Werden seit dem Urteil weniger Knaben beschnitten?
Ja, die Eltern haben Angst. Auch die Mohalim, die Beschneider, haben Angst. Vor Kurzem wurde ein Rabbiner aus Hof angezeigt, der eine Beschneidung durchgeführt hat. Er wurde von einem Arzt aus Hessen angezeigt, also von einer Person, die er gar nicht kennt. Wir bekommen aber auch viel Unterstützung von der Bevölkerung, von den Kirchen, von Politikern.
Ist die jetzt geführte Diskussion eigentlich typisch deutsch?
Tatsächlich geht man in anderen Ländern mit dem Thema Beschneidung völlig anders um. In den USA sind 70 Prozent der Männer beschnitten. In Afrika werden Beschneidungen aus gesundheitlichen Gründen propagiert. In Deutschland hingegen wird erklärt, dass die Beschneidung nicht erlaubt sei.
Warum ist die Beschneidung eigentlich so wichtig?
Das Beschneidungsgebot war das erste Gebot, das Abraham von Gott auferlegt bekommen hat. Es ist das Zeichen des Bundes zwischen ihm und Gott. Bei der Frage, welches Essen koscher ist und welches nicht, mag man diskutieren können. Die Frage, ob ein Jude beschnitten werden soll, ist eindeutig beantwortet. Ein Jude ist zwar von Geburt an Jude. Aber durch die Beschneidung wird gezeigt, dass er bereit ist, etwas abzugeben, etwas Besonderes für Gott zu tun.
Gibt es gläubige Juden, die nicht beschnitten sind?
Nein, gläubige Juden sind beschnitten. Aber es gibt natürlich Juden, die nicht beschnitten sind. Viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion konnten in jenem Land nicht beschnitten werden. Beschnittene wurden dort diskriminiert, manche sogar zu Haftstrafen verurteilt. Viele Juden, die nun in Dortmund leben, haben die Beschneidung nachgeholt. Es werden also nicht nur acht Tage alte Jungen beschnitten, sondern auch 80jährige Männer. Es gibt natürlich auch wenige Juden, die nicht beschnitten werden wollen oder ihre Kinder nicht beschneiden lassen wollen.
Noch einmal zum Kölner Urteil. Der Staat greift ein, um das Wohl der Kinder zu gewährleisten. Können Sie das nicht verstehen?
In vielen Fällen ist dies sogar wichtig. Wenn Eltern ihre Kinder schlagen oder Gefahren aussetzen, ist das Eingreifen des Staates notwendig. Die Beschneidung ist ein anderer Fall. Eltern treffen für ihre Kinder sehr viel weitreichendere Entscheidungen. In welche Schule soll mein Kind gehen? Mit wem soll es spielen? Ich kenne keinen Fall auf der ganzen Welt, wo ein Sohn seine Eltern verklagt hat, weil sie ihn haben beschneiden lassen.
Aber die Beschneidung ist mit Schmerzen verbunden.
Studien zeigen, dass bei acht Tage alten Jungen der Schmerz wenige Minuten anhält. Später ist die Beschneidung viel schmerzhafter und der Schmerz hält auch viel länger an.
Ist es für die Eltern nicht auch schrecklich, dass ihrem Sohn durch die Beschneidung Schmerz zugefügt wird?
Bei der Beschneidung verlässt die Mutter oft den Raum. Unsere Stärke ist die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden.
Der jüdische Glauben unterliegt aber doch auch Wandlungen. Muss die Beschneidung immer diese Wichtigkeit behalten?
Natürlich wird das, was in der Thora geschrieben steht, an die heutige Situation angepasst, wenn es denn einen Bedarf gibt. Wir nutzen mittlerweile das Licht am Sabbat, schalten es aber nicht selbst an und aus. Es gibt Zeitschaltuhren. In unseren Krankenhäusern gibt es noch bessere technische Möglichkeiten, warmes Essen am Sabbat zu bereiten. Aber andere Regeln können wir wiederum nicht ändern. Ein Schwein bleibt ein Schwein. Wir dürfen es nicht essen. Auch die Beschneidung wird weiter durchgeführt werden.
Bedeutet die Beschneidung nicht eine Einschränkung der männlichen Libido?
Jüdische Männer haben seit Jahrtausenden gezeigt, dass sie Kinder zeugen können. Aber letztlich geht es doch darum, welche Werte jedem Menschen wichtig sind. Ich bin beschnitten, weil ich ein Jude bin, weil ich so meine Beziehung zu Gott zeigen.
Entsteht durch die Beschneidungsdiskussion eine Annäherung zwischen Juden und Muslimen?
Ja, auf einmal wird klar, dass wir gleiche Gebote befolgen. Wenn wir über Beschneidung sprechen, sprechen wir nicht nur für uns, sondern auch für die Muslime und ich freue mich, dass die Muslime auch für uns eintreten.
Isaak und Ismael sind Halbbrüder?
Immer noch. Gott sei Dank.
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